Die meisten Leser kennen Kästner als einen erfolgreichen Kinderbuch-Autor: „Pünktchen und Anton“, „Emil und die Detektive“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ hat wohl jeder irgendwann in seiner Kindheit gelesen. Kleiner wird der Kreis der Leser, wenn es um die Bücher für Erwachsene geht. Den „Fabian“ (1931) hat man vielleicht, wenn man Glück und einen fähigen Deutschlehrer hatte, in der Schule gelesen. Die Gedichte von Kästner kennt man hingegen nur auszugsweise. Dabei waren „Herz auf Taille“ (1928), „Lärm im Spiegel“ (1929) und „Ein Mann gibt Auskunft“ (1930) seinerzeit echte Bestseller. Sie wurden gerne gelesen und noch lieber verschenkt.
„Ein Mann gibt Auskunft“ liegt zeitlich genau zwischen „Emil und die Detektive“ (1929) und dem „Fabian“ (1931). Wer nun glaubt, ein leichtes, lockeres Gedichtbändchen vorzufinden, sieht sich jedoch arg getäuscht: Kästner hat es nämlich faustdick hinter den leicht abstehenden Ohren. Seine Gedichte in diesem Band orientieren sich eher am „Fabian“ und sind sicherlich nicht für Kinderohren bestimmt. Kleine Kostprobe gefällig?
Sogenannte Klassefrauen
Sind sie nicht pfui teuflisch anzuschauen?
Plötzlich färben sich die ‚Klassefrauen‘
Weil es Mode ist, die Nägel rot!
Wenn es Mode wird, sie abzukauen
Oder mit dem Hammer blauzuhauen,
tun sie’s auch. Und freuen sich halb tot.
(…)
Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln
Immer auf den ersten besten Mist.
Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln!
Und sie sind auf keine Art zu zügeln,
wenn sie hören, dass was Mode ist.
Wenn’s doch Mode würde, zu verblöden!
Denn in dieser Hinsicht sind sie groß.
Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten
Jede Öffnung einzeln zuzulöten!
Denn dann wären wir sie endlich los.
Nein, das klingt nicht nach Kinderbuch. Eher scheint Kästner das Berghain im Auge zu haben! Seit über 80 Jahren hat sich, so scheint’s, nicht allzu viel geändert, was die Mode angeht.
„Ein Mann gibt Auskunft“ zeigt einen bissigen Autor mit scharfer Zunge, der seine Bestandaufnahme der Berliner Verhältnisse am Ende der 1920er Jahre mit gespitzter Feder an die Wände kritzelt. Vergleichbar mit Kurt Tucholsky, der ebenfalls nie ein Blatt vor dem Mund nehmen konnte, wenn ihn etwas auf die Palme brachte, schreibt Kästner in seinen Gedichten gegen den alltäglichen Wahnsinn an. „Ein Mann gibt Auskunft“ ist dennoch nicht nur ein Selbstzeugnis, sondern ein die Wirklichkeit entzerrender Spiegel, den er seiner Wahlheimat Berlin vorhält. Seinem diagnostischen Blick entgeht kein Makel, und er legt den Finger erbarmungslos auf jede Wunde.
Wer mit Kästners Werk vertraut ist, wird auch an „Ein Mann gibt Auskunft“ (erschienen im Atrium-Verlag) seine Freude haben. Und wer Kästners Gedichte noch nicht kennt, sollte diesen Gedichtband lesen, der einen anderen, einen gar nicht so ironischen und heiteren Kästner zeigt, sondern im Gegenteil das Schwarze und Tiefschwarze seiner pessimistischen Zeitdiagnose offenbart.
Autor: Erich Kästner
Titel: „Ein Mann gibt Auskunft – Gedichte“
Gebundene Ausgabe: 112 Seiten
Verlag: Atrium Zürich
ISBN-10: 3855359598
ISBN-13: 978-3855359592