Czernowitz ist ein Sehnsuchtsort und war einst die Kulturhauptstadt einer seit langer Zeit versunkenen Welt. Heute liegt die Hauptstadt der Bukowina in der westlichen Ukraine; sie gehörte einst zum Habsburgerreich Österreich-Ungarn, zu Polen, Rumänien, Russland und jetzt zur Ukraine.
Seit Jahrhunderten lebten Juden in der Bukowina, bis der Holocaust diesem kulturellen Hotspot im Südosten Europas einen grausamen Garaus machte. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Bukowina eine vielschichtige deutschsprachige, rumänische, ukrainische und jiddische Dichtung und eine Reihe mehrsprachiger Schriftsteller hervorgebracht. Die Liste der bedeutenden Söhne und Töchter dieser Stadt ist lang. Allein aus dem Bereich der Literatur seien hier stellvertretend nur Selma Meerbaum-Eisinger, Paul Celan, Rose Ausländer und Gregor von Rezzori genannt. Die Schicksals- und Leidensgeschichten der jüdischen Bevölkerung der Bukowina sind durch zahlreiche literarische Werke und auch durch die historische Forschung ins Bewusstsein vieler Deutscher gerückt.
Edith Silbermann war mittendrin in diesem kulturellen Schmelztiegel. So vertraute sie ihrer Nichte (Amy-Diana Colin) in einem Gespräch an, dass Paul Celan zu ihren engen Jugendfreunden zählte. Zu jenem Freundeskreis gehörte u. a. auch Rose Ausländer. Ihr Vater, Karl Horowitz, war ein begeisterter Büchersammler, und so war seine umfangreiche Bibliothek für den jungen Celan eine unerschöpfliche Inspirationsquelle.
Amy-Diana Colin ist Professorin für Germanistik an der University of Pittsburgh und fungiert als Herausgeberin dieser Biographie; Edith Silbermann war ihre Tante und die Schwester ihrer Mutter, Sabine Colin. Edith Silbermann wusste, dass der Verlag Wilhelm Fink ihr Buch herausgeben würde. Nach Silbermanns Tod 2008 wurde für die Herausgeberin ihre eigene Mutter zur wichtigsten Informationsquelle über die gemeinsame Kindheit und Jugend in Czernowitz.
Biographien haben, nach einigem Auf und Ab der literarischen Moden, heute wieder Hochkonjunktur. Ihre Sonderform der selbst geschriebenen Autobiographie bürgt einerseits für eine Lebensnähe, die kein noch so begnadeter Biograph zu reproduzieren in der Lage sein dürfte; andererseits trägt jede Autobiographie die potentielle Gefahr der bewussten oder unbewussten Korrektur und Beschönigung der Vergangenheit in sich. Hier kann ein faktualer und dokumentarischer Anhang Abhilfe leisten und korrektiv eingreifen.
Allgemein gesprochen, sind jedoch Biographien mehr noch als fiktionale Texte in der Lage, uns eine Vorstellung von dem Leben und Leiden, vom Hoffen und den Schicksalsschlägen zu geben, die einem Menschen wiederfahren können. Die meist erschütternden Biographien der ehemaligen Bewohner von Czernowitz machen hierin keine Ausnahme.
Der Wilhelm Fink Verlag hat jetzt — nach vielen Jahren der Vorbereitung — ein wirklich ambitioniertes Buchprojekt abgeschlossen: „Czernowitz – Stadt der Dichter“. Es handelt sich hierbei um die Autobiographie von Edith Silbermann (1921-2008) und die Geschichte ihrer Familie. Dieser Autoren-Text wird ergänzt durch eine ausführliche Bilddokumentation, eine Abhandlung über die Rezitationskunst von Edith Silbermann, einen umfangreichen Apparat mit Personenregister, Kurzbiographien und zwei Audio-CDs mit originalen Gesängen und Rezitationen der Künstlerin.
Dieses Buch ist der gelungene Versuch, die Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina zu rekonstruieren. Dies geschieht einerseits in Form jener autobiographischen und sehr genauen Aufzeichnungen des Lebensweges von Edith Silbermann und ihrer Familie; andererseits unternimmt die Herausgeberin den Versuch, jene turbulente Geschichte durch weitere Fakten zu ergänzen: Öffentliche Dokumente, Bilder und persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen werden hier zu einem nahezu lückenlosen Mosaik zusammengestellt, das die Stationen des Lebens von Edith Silbermann und ihrer Familie in der Zeit von 1900 – 1948 nachzeichnet.
Diese bewegte Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina gewährt Einblicke in eine versunkene Welt mit ihrem In-, Mit- und Gegeneinander deutschsprachiger, jüdischer, rumänischer und ukrainischer Kulturtraditionen. Diese Welt ging in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts unter. Aber die Bukowina, das Buchenland, lebt als Mythos weiter in den lyrischen und literarischen Werken ihrer ehemaligen Söhne und Töchter weiter.
Edith Silbermann ist dem deutschen Publikum als Rezitatorin und Interpretin der Lyrik von Paul Celan und Rose Ausländer bekannt. Im Verlag Wilhelm Fink ist vor einigen Jahren auch ein Buch mit Erinnerungen an ihren Freund Paul Celan erschienen. Der jetzt vorliegende Titel über „Czernowitz – Stadt der Dichter“ orientiert sich an diesem ersten Band, was seinen Aufbau und den Umfang des Apparats angeht, der die Erinnerungen durch Fotos, Briefe und andere Dokumente belegt.
„Czernowitz – Stadt der Dichter“ ist ein Multimedia-Paket, das den Leser und Hörer, den Betrachter der Fotos und den Zuhörer der jiddischen Lieder und der Gedichte von Paul Celan und anderen berühmten Bukowinern mitnimmt auf eine Traumreise in eine versunkene Welt. Man kann und darf dieses Buch(-Paket) als ein Gesamtkunstwerk bezeichnen, und es muss als ein solches mit allen Sinnen genossen werden. „Czernowitz – Stadt der Dichter“, die Autobiographie von Edith Silbermann und ihrer Familie ist das gelungene Exempel eines Hybriden aus Buch und CDs, aus fiktionalen und faktualen Texten, das sowohl den interessierten Laien als auch die Forschung ansprechen und begeistern wird. – Bei aller Tragik der realen Geschichte jener jüdischen Familie und ihrer Freunde ist dieses Buch ein schönes, ein wichtiges und bemerkenswertes Dokument jüdischen Lebens in der Bukowina der ersten Hälfte es 20. Jahrhunderts — sowie das bewegende Logbuch vom Untergang eines multikulturellen Hotspots am südöstlichen Rande Europas.
Autor: Edith Silbermann u. Amy-Diana Colin (Hg.)
Titel: “Czernowitz – Stadt der Dichter. Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina (1900-1948)“
Broschiert: 401 Seiten
Verlag: Wilhelm Fink Verlag
ISBN-10: 3770548434
ISBN-13: 978-3770548439