5.2 DAS BEDÜRFNIS NACH CHOCKWIRKUNGEN
Benjamin führt den Erfolg des Films und die Freude des Publikums an den Schockwirkungen der schnellen Bilder auf die gesteigerte Lebensgefahr seiner Zeit zurück. In den unsicheren Zeiten des Nationalsozialismus, der Verfolgung und der Kriegsgefahren versuche der Mensch, der gesteigerten Gefährdung des eigenen Lebens durch eine Steigerung der subjektiven Reize zu verarbeiten: KÜRZEN!!! „Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.“ (Benjamin 2010: S. 67)
5.3 SAMMLUNG UND ZERSTREUUNG
Die kulturkritische Klage, dass die Menschen sich lieber zerstreuen als sammeln, lässt sich auch auf die Betrachtung der Kunstformen beziehen, wenn Benjamin schreibt: „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein […]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.“ (Benjamin 2010: S. 70) Die Malerei ist eine typische Kunstform für die kontemplative Betrachtung. Der Betrachter sammelt sich vor dem Kunstwerk, führt mit ihm einen stillen Dialog, vertieft sich und geht in das Kunstwerk ein. Beim Film ist das massenhafte Publikum einem Geschehen ausgesetzt, das von ihm nicht gesteuert oder beeinflusst werden kann. Die durch die Bilder angestoßenen Assoziationen können nicht weiterverfolgt werden; die darauffolgenden Bilder brechen die Assoziationsketten ab und senden Impulse für neue Assoziationen. Diesem Geschehen begegnet das Publikum, indem es sich von ihm berühren und durchdringen lässt.
5.3.1 REZEPTION IN DER ZERSTREUUNG
In politischen Wendezeiten und gesellschaftlichen Umbruchsituationen sind die Menschen durch die Bewältigung der täglichen Überlebensaufgaben gefordert; ansonsten sind sie zerstreut oder suchen in der Zerstreuung Entspannung. „Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute. Mehr: gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist.“ (Benjamin 2010: S. 72)
„Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurch zurück, daß er das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt, sondern auch dadurch, daß die begutachtende Haltung im Kino Aufmerksamkeit nicht einschließt. Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.“ (Benjamin 2010: S. 72)
Die Rezeption in der Zerstreuung, wie sie sich in allen Kunstformen, jedoch allen voran im Film, bemerkbar macht, ist für ihn das „Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption“ (Benjamin 2010: S. 72). Die tiefgreifenden Veränderungen der Wahrnehmung, wie sie durch die technischen Entwicklungen der Fotografie und des Films ausgelöst wurden, finden ihren Widerhall sowohl in einem Wandel des Kunstbegriffs als auch am Rezeptionsverhalten des Massenpublikums. Die Rezeption in der Zerstreuung ist zur neuen Grundhaltung (in) der Kunsterfahrung und des Kunst-Konsums geworden.
6. DIE NEUE FUNKTION DER KUNST
6.1 FASCHISMUS UND FILM
„Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen und die zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten eines und desselben Geschehens.“ (Benjamin 2010: S. 73) Der Faschismus versucht, die Massen in seinem Sinne zu organisieren, das bedeutet, ohne Infragestellung der bestehenden Eigentumsverhältnisse. Der Faschismus betreibt diese Formierung der Massen durch den Film, durch Spielfilme und Wochenschauen, in denen propagandistische Inhalte mehr oder weniger offen gezeigt werden. Um den bestehenden Verhältnissen einen Ausdruck zu verleihen, betreibt die faschistische Filmindustrie eine bewusste Ästhetisierung des politischen Lebens. „Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.“ (Benjamin 2010: S. 74)
Nur ein Krieg kann die Aufmerksamkeit der Massen von den eigenen prekären Eigentumsverhältnissen ablenken und auf einen exterritorialen Kampfplatz verlagern.
Wie die Futuristen um Marinetti preisen die Faschisten die Schönheit und die reinigende Kraft des Krieges; diese „Apotheose des Krieges“ (Benjamin 2010: S. 74) gipfelt in der Ästhetisierung der eigenen Vernichtung. Im Krieg wird die Ästhetisierung des eigenen Untergangs zum höchsten Ziel der Kunst.
6.2 POLITISIERUNG DER KUNST
Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Im Faschismus wird dieses Recht durch die Ästhetisierung des politischen Lebens und des Krieges unterdrückt. „Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“ (Benjamin 2010: S. 77)
Wenn jedoch die Gewöhnung an das Neue die taktile Rezeption begünstigt, bleibt mehr Kapazität für die Bewältigung der wichtigen Aufgaben. Die wichtigste Aufgabe der Kunst sieht Benjamin in der Mobilisierung der Massen. „Sie tut es gegenwärtig im Film.“ (Benjamin 2010: S. 72)
Im Kommunismus jedoch stehen der Mensch und seine kollektive Selbstverwirklichung im Mittelpunkt. Die kommunistische Kunst erfüllt nicht nur eine politische Funktion – das tut sie auch im Faschismus nach seinen Interessen -; sondern die Kunst selbst wird politisiert.
ZUSAMMENFASSUNG
Die Entwicklung der Medien trägt zum Kunst- und Erfahrungswandel bei. Diese Grunderkenntnis einer materialistischen Kunsttheorie wird von Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz am Beispiel der Medien Fotografie und Film analysiert. Die Transformation der gesellschaftlichen Rolle der Kunst vollzieht sich in einer Loslösung vom Ritual und einer neuen Fundierung in der Politik.
Gleichzeitig ändert die Kunst ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit und öffnet sich in den öffentlichen Raum, der durch die neuen Medien strukturiert wird. Die Kontemplation als bisherige ästhetische Einstellung weicht der Zerstreuung. „Von der kontemplativen Wahrnehmung des echten und einmaligen Werks führt der Weg zur zerstreuten Wahrnehmung des kopierten und massenhaft verbreiteten.“ (Schöttker 2007: S. 134) Durch die Reproduktionstechnologien werden Kunstwerke beweglich und können massenhaft rezipiert werden.
In seiner Analyse ging es Benjamin nicht in erster Linie um die Einflussmöglichkeiten des Films auf die Kunst, sondern um den Wandel der Kunst und der Wahrnehmungsformen (Apperzeption), der durch diese neuen technischen Medien ausgelöst wurde; es ging also um neue Erfahrungsformen der Moderne, die am Film beispielhaft beschrieben werden. Das charakteristische Merkmal der Moderne ist für Benjamin der „Verfall der Aura“ (Benjamin 2010: S. 19). Die Zertrümmerung der Aura ist für ihn Ausdruck einer neuen Wahrnehmungsform, in der die Massen einen „Sinn für das Gleichartige in der Welt“ (Benjamin 2010: S. 20) entwickelt haben, der ihnen die Aneignung der Kunst auf eine neue, natürliche und zerstreute Art ermöglicht. Das Zeitalter der Massen eignet sich das Kunstwerk im Zustand der Zerstreuung an, es nimmt gewohnheitsgemäß die Haltung des prüfenden Beobachters ein und eröffnet so einen Möglichkeitsraum für die politische Funktion der Kunst. In dieser Politisierung sah Walter Benjamin die Hauptaufgabe einer neuen antifaschistischen Kunst.