3.7 DAS PUBLIKUM
3.7.1 TEST-SITUATION
Für das Theaterpublikum stellt sich das Schauspiel als eine Einheit dar, als ein Geschehen, dem man als Zuschauer folgt. Die filmische Apparatur hingegen ist nicht bereit, das Spiel des Filmdarstellers als eine Totalität zu betrachten, sondern sie „nimmt unter Führung des Kameramannes laufend zu dieser Leistung Stellung“ (Benjamin 2010: S. 37). Diese Stellungnahme manifestiert sich einerseits bereits beim Drehen des Rohmaterials und andererseits in der Montage.
Diese Stellungnahme der Apparatur wird in einem zweiten Durchlauf von der Stellungnahme des Publikums wiederholt, das den Film als Gesamtprodukt und den Filmdarsteller im Besonderen einem „Test“ unterzieht. Indem das Filmpublikum sich dem Film als Kunstwerk ausliefert, zeigt sich der Wunsch der Masse nach Beurteilung der filmischen Darstellung. Die Zuschauer müssen sich dem Diktat der Apparatur unterwerfen und versuchen gleichzeitig, sich das im Film Dargestellte anzueignen. Das Publikum sucht also auch hier im Besonderen das Allgemeine, und es „testet“ die Authentizität des Spiels des Filmdarstellers. Hierdurch nimmt auch das Publikum selbst den Platz der filmischen Apparatur, des Kameramannes, des Cutters und des Regisseurs ein.
Benjamin sieht durch die fortgeschrittene Reproduzierbarkeit ein neuartiges Bedürfnis erzeugt: das Bedürfnis, „des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden“ (Benjamin 2010: S. 20). Für Lindner „entsteht ein massenhaftes Verlangen, das auf Verkleinerung, auf Transportierbarkeit und auf nächste Nähe des Fernen ausgerichtet ist.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 234)
3.7.2 DER SCHÖNE SCHEIN
Die Prinzipien der Fragmentierung und der Montage sind wesentliche Bestandteile der Filmproduktion, so dass „die Kunst aus dem Reich des »schönen Scheins« entwichen“ (Benjamin 2010: S. 43) ist. Die filmischen Produktionsabläufe verzichten grundsätzlich auf die Möglichkeit der Illusionierung und der Schaffung eines schönen Scheins durch das Schauspiel, sondern erzeugen die episodenhaften und gestückelten Filmbilder nach schematischen und rein an den Produktionsbedingungen orientierten Drehplänen. Erst der fertig montierte Film ist wieder in der Lage, durch seine gelungene Komposition der Bilder einen schönen Schein zu erzeugen, der vom Publikum als das plausible Abbild der Realität rezipiert wird. Doch diese „illusionäre Natur [des Films] ist eine Natur zweiten Grades“ (Benjamin 2010: S. 51).
3.7.4 DAS PUBLIKUM DER FACHLEUTE
In den 1930er Jahren wurde nicht nur der Tonfilm zum Leitmedium der visuellen Darstellung der Realität; gleichzeitig wurden die Kameras immer kleiner, immer günstiger. Wie schon seit der Erfindung der Box-Kamera für den Bereich der Amateur-Fotografie begann sich nun auch ein neuer Absatzmarkt zu öffnen für die Amateur-Filmerei. Kleine Handkameras, mit denen in Normal-8 kurze stumme Filmsequenzen für den privaten Gebrauch gefilmt (und im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreise vorgeführt) werden konnten, machten aus Filmzuschauern zunehmend auch laienhafte Filmproduzenten. „Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt.“ (Benjamin 2010: S. 46)
Wie jeder Fußballfan vor dem Fernseher zum Experten avanciert, so wird auch der Amateurfilmer zu einem „halben Fachmann“ in Sachen Filmkomposition, Darstellung und Handlungsablauf. Mit dem Film wird die Haltung des staunenden Betrachtens und der Kontemplation vor einem auratischen Kunstwerk abgelöst durch die kritische Beurteilung der Authentizität eines Kunstprodukts in der Haltung eines (halben) Fachmanns. „Was Benjamin als Testleistung vor der Apparatur beschreibt, betrifft im übrigen nicht allein den Filmschauspieler, sondern eine neue Auslese auch im Feld der Politik und des Sports, ‚aus der der Champion, der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen‘.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 243)
4. FORTSCHRITT DER KUNSTFORMEN
Es liegt im Wesen des Künstlers, die jeweils zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten bis ans Limit auszureizen. Der Wunsch nach handwerklicher Perfektion, die ihn antreibt, führt zu einer permanenten Optimierungsbewegung. Allgemein gesehen bildet die Avantgarde die Spitze jener Bewegung, die mit den Kunstformen spielt, Grenzen überwindet und auch neue Technologien in ihre kreativen Ideen einbindet.
Benjamin nennt in diesem Zusammenhang drei Entwicklungslinien, die sich in jeder ausgebildeten Kunstform treffen: Erstens arbeitet die Technik auf eine bestimmte Kunstform hin. Zweitens versucht die jeweils überkommene Kunstform mühsam, Effekte zu simulieren, die später von der neuen Kunstform mit Leichtigkeit übernommen und verwirklicht werden können. Und drittens arbeiten “ oft unscheinbare, gesellschaftliche Veränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunstform zugute kommt“ (Benjamin 2010: S. 63). Auf diese Weise habe die Kunst die Aufgabe, „eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“ (Benjamin 2010: S. 63).
Es ist jene Tendenz zur Selbstüberwindung, die für die avantgardistische Kunst so charakteristisch ist. Benjamin nennt in diesem Zusammenhang den Dadaismus mit seinen oftmals weit über das Ziel hinausschießenden Kunstaktionen, mit denen er versuchte „die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu erzeugen“ (Benjamin 2010: S. 64).
4.1 TAKTILE QUALITÄT
Mit der Aggressivität der dadaistischen Kunstwerke kam eine neue Qualität in die Kunstwelt, die die Betrachter durch ihre Schockwirkung aufrüttelte und von ihnen eine neue Reaktion forderte. Im Gegensatz zum konventionellen Kunstgenuss „wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität.“ (Benjamin 2010: S. 66) Diese neue Art der Berührung durch die Kunst in ihrer aggressiven Expressivität ebnete den Weg für jene neue Kunstform, dem Film, „dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen.“ (Benjamin 2010: S. 66)
Im Vergleich zum Gemälde lädt der Film seinen Betrachter nicht mehr zur Kontemplation ein. Vor einem Gemälde kann sich der Betrachter in Ruhe seinen Assoziationen hingeben und sich Zeit lassen. „Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert.“ (Benjamin 2010: S. 67)
4.1.1 TAKTILE UND OPTISCHE REZEPTION
Bauten sind für Benjamin ein passendes Beispiel jener taktilen Kunsterfahrung, die über die rein optische Betrachtung hinaus eine direkte Berührung und den Kontakt zwischen Kunstwerk und dem Betrachter zulassen. Indem wir einen Bau begehen, ihn nutzen, erfahren wir taktil seine Funktion; die Kunst seiner architektonischen Gestaltung und seine jeweilige Funktion (Rathaus, Museum, Kirche, Oper, Bahnhof) werden für uns greifbar. Der Gebrauch jener Funktionsgebäude wird schnell zur Gewohnheit, wodurch unsere Aufmerksamkeit gegenüber ihren architektonischen Reizen gemindert wird, während wir gleichzeitig in der Lage sind, jene Kunstwerke taktil als solche zu erfahren. „Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit.“ (Benjamin 2010: S. 71)
„Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch.“ (Benjamin 2010: S. 71) Die fehlende Terminologie zwingt Benjamin hier zu einer Umschreibung der taktilen Kunsterfahrung: „Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist.“ (Benjamin 2010: S. 71)
Der Gewöhnungseffekt, den die Nutzung der Funktionsbauten auf die Wahrnehmung der optischen Qualitäten ausübt, ist in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche von Nutzen, um die Menschen nicht zu überfordern; denn: „Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.“ (Benjamin 2010: S. 71–72) Der Kunstwerkaufsatz geht von der Prämisse aus, dass diese kollektive Wahrnehmungsveränderung „selbst nur partiell bewußt erfahren wird“. (Lindner/Küpper 2006: S. 235)
5. DIE WAHRNEHMUNG
Der kapitalistische Film möchte die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht antasten; er zielt auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens und auf die bewusste Verklärung der Realität zugunsten träumerischer Illusionen. „Je mehr […] die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen […] die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen.“ (Benjamin 2010: S. 55) Dabei könnte der Film durchaus eine gesellschaftliche und politische Funktion erfüllen, wie die russischen Avantgarde-Filme seiner Zeit zeigen. Die Voraussetzungen für eine solch neue Rezeption sieht Benjamin durchaus als günstig an, denn „[i]m Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen“ (Benjamin 2010: S. 55).
5.1 DAS OPTISCH-UNBEWUSSTE
Die Filmtechnik ermöglicht die Abbildung und die Sichtbarmachung bislang ungesehener Vorgänge. „Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt.“ (Benjamin 2010: S. 58) Wie Benjamin richtig folgert, hat diese neue optische Merkwelt eine Veränderung der Apperzeption zur Folge.
Die technischen Möglichkeiten des Films (Zeitraffer, Zeitlupe, Nahaufnahme) begünstigen die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft und führen gleichzeitig zu neuen Wahrnehmungsmustern. Was zuvor nicht gesehen werden konnte, weil das menschliche Auge an seine Grenzen stieß, wird durch die Filmkamera und „mit dem Dynamit der Zehntelsekunden“ (Benjamin 2010: S. 60) für das menschliche Auge sichtbar gemacht. Endlich ist die bislang unbekannte Welt des „Optisch-Unbewußten“ (Benjamin 2010: S. 62) für die menschliche Wahrnehmung erschlossen und erweitert so den Blick auf die Wirklichkeit. Diese neuen Sehweisen etablieren sich schon nach einer kurzen Gewöhnungszeit und tragen nachhaltig zum Wandel der apperzeptiven Wahrnehmung bei.
Eine ähnlich revolutionäre Wirkung auf die Wahrnehmung hatten seinerzeit die Serienbilder von Eadweard Muybridge, mit denen erstmals gezeigt werden konnte, dass ein Pferd während des Galopps für kurze Zeit alle vier Hufe vom Boden abhebt und in der Luft schwebt. Seitdem war die Wahrnehmung eines galoppierenden Pferdes niemals mehr dieselbe wie zuvor.