3.4.2 DIE APPARATUR ALS MEDIUM / DIE BESONDERE MEDIALITÄT DES FILMS
Der Film als neues Medium erzwingt die gleichzeitige und mehr oder weniger bewusste Wahrnehmung seiner technischen Produktionsweise. Anders als andere Kunstwerke vor ihm (Malerei, Druck, Fotografie) kann die Rezeption des Films nicht ohne eine gleichzeitige Wahrnehmung des Mediums selbst vollzogen werden. Die Rezeption ist beim Film immer eine mittelbare, und sie schließt die Rezeption der Apparatur in die der abgebildeten Realität mit ein. Wenn wir einen Film sehen, sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir einen Film sehen. Die filmische Apparatur gibt die Perspektive(n) vor, aus der (denen) die Zuschauer auf die abgebildete Realität blicken.
Natürlich könnte Ähnliches auch von einer Fotografie oder von einem Gemälde gesagt werden, bei denen zuvor der Maler oder Fotograf eine bestimmte Perspektive, einen Ausschnitt und eine Lichtgebung gewählt hat, die unsere Wahrnehmung leiten. Was jedoch den Film von allen anderen Medien unterscheidet, ist die nicht vom Betrachter steuerbare Abfolge der Bilder, also der zeitliche Ablauf des Films und die durch die Montage beabsichtigte Kontextualisierung (oder besser: Konvisualisierung) des Gezeigten.
Anders als die Betrachtung eines Theaterstücks stellt die Rezeption des Films „einen Vorgang dar, dem kein einziger Standpunkt mehr zuzuordnen ist, von dem aus die zu dem Spielvorgang als solchen nicht zugehörige Aufnahmeapparatur, die Beleuchtungsmaschinerie, der Assistentenstab usw. nicht in das Blickfeld des Beschauers fiele.“ (Benjamin 2010: S. 51) Der „Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit“ (Benjamin 2010: S. 52) und die Suche nach der apparatefreien Abbildung der Wirklichkeit werden unter diesen Voraussetzungen zu einer romantischen und vergeblichen Sehnsucht nach der „blauen Blume im Land der Technik“ (Benjamin 2010: S. 52).
3.4.3 DER MAGIER UND DER CHIRURG
Der Vergleich von Malerei und Film macht deutlich, wie unterschiedlich der Schaffensprozess beider Medien ist. Während der Maler sich seinem Objekt, beim Porträt dem Menschen, vorsichtig nähert, indem er sich dem Objekt gegenüberstellt, muss der Kameramann jegliche Distanz zum Darsteller aufgeben, muss ihn mit Haut und Haaren der Gewalt der filmischen Apparatur unterwerfen, muss wie ein Chirurg tief in ihn eindringen und sein Innerstes offenlegen. Benjamin vergleicht daher den Maler mit einem Magier, während der Kameramann wie ein Chirurg arbeiten muss: „Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein.“ (Benjamin 2010: S. 53)
3.4.4 DER FILM ALS MEDIUM DER EMANZIPATION
Durch sein vom Ursprung her auf massenhafte Reproduzierbarkeit angelegtes Wesen ist der Film zu einem Medium der Befreiung und der Emanzipation der Massen geworden. Während die Malerei noch als Beispiel einer kontemplativen Rezeptionsform gelten kann, die wenigen kompetenten Betrachtern in einem raumzeitlichen Fixum (dem Hier und Jetzt des Originals) vorbehalten war, wird durch die unbegrenzte Vervielfältigung des filmischen Kunstwerks nicht nur eine Überwindung alles an ihm Tradierbaren ausgelöst (die Auflösung der Aura), sondern gleichzeitig auch eine Befreiung des Betrachters von allen traditionellen und kunsthistorischen Fesseln. Im Gegensatz zur Betrachtung und „richtigen“ Beurteilung eines Gemäldes kann der Film von allen Zuschauern auf einem gleichen Niveau betrachtet, beurteilt und einem „Test“ unterworfen werden: „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z. B. angesichts eines Chaplin, um.“ (Benjamin 2010: S. 55)
3.5. DER SCHAUSPIELER
Der Bühnenschauspieler spielt für ein Publikum auf der Bühne. Sein Spiel ist einmalig und folgt dem Duktus der Spielhandlung vom Anfang bis zum Ende. Die künstlerische Leistung des Bühnenschauspielers wird vom Publikum direkt erfasst und bewertet. Der charismatische Schauspieler kann mit einer Aura umgeben sein, die sein Spiel zusätzlich adelt und seinem Handeln eine starke Authentizität verleiht.
Der Filmdarsteller hingegen spielt nicht für ein anwesendes Publikum, sondern für und vor der Apparatur des Filmsets. Sein Spiel ist kein Spielen mehr, sondern ein Posieren. Die Spielhandlung wird abgelöst von einem Drehplan, einzelne Szenen werden mehrmals hintereinander und aus verschiedenen Perspektiven gedreht, Großeinstellungen, Schuss und Gegenschuss, Schwenks und Kamerafahrten fragmentieren die Handlung und führen dazu, „den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und […] an der richtigen Stelle einsetzt.“ (Arnheim 2002: S. 149)
Durch diese Fragmentierung seines Spiels und die Zerstörung des chronologischen Handlungsverlaufs hat der Filmdarsteller seine Aura gänzlich eingebüßt; die Apparatur erlaubt weder ein kontinuierliches Spiel noch den Aufbau eines längeren Spannungsbogens, wie er für den einen Schauspieler zur vollen spielerischen Entfaltung seiner Aura notwendig ist. Während es dem Bühnenschauspieler durch ein überzeugendes Schauspielern gelingt, das Publikum durch den Glanz seiner Aura „zu packen“, posiert der Filmdarsteller für einzelne kurze Sequenzen vor einer filmischen Apparatur: Dieses episodenhafte Spielen verhindert die Entstehung jeglicher Aura; gleichzeitig ist das filmische Medium nicht in der Lage, die Aura eines Darstellers zu erzeugen oder zu transportieren.
3.5.1 DER WARENCHARAKTER DES FILMS
Das Ausgeliefertsein des Darstellers an die Apparatur führt nach Benjamin zu einer gesteigerten Reflexion im Bewusstsein des Filmdarstellers. Er weiß, dass er, auch wenn er vor der filmischen Apparatur und für das Filmteam spielt, in zweiter und letzter Instanz für das Publikum im Kinosaal spielt. Der Warencharakter des Films und die Test-Situation, dem der Film (und in ihm natürlich auch der Filmdarsteller) unterworfen ist, wird in dieser Konstellation besonders deutlich, denn der Filmdarsteller spielt für ein „Publikum der Abnehmer, die den Markt bilden“ (Benjamin 2010: S. 45).
3.5.2 VERLUST DER AURA
Der Film erschafft ein konstruiertes Abbild der Wirklichkeit. Der Verlust der Aura ist bedingt durch die technische Produktionsweise des Films. Jenes von vornherein auf unbegrenzte Reproduzierbarkeit angelegtes Kunstwerk schließt den Aspekt der Aura völlig aus. „Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr.“ (Benjamin 2010: S. 40)
3.6 STARKULT UND FÜHRERKULT
Die Filmindustrie antwortet auf den durch die technische Reproduktionsweise des Films bedingten Zerfall der Aura mit dem künstlichen Aufbau eines Starkults. Analog sah Benjamin in den Wochenschauen seiner Zeit den Aufbau eines medial gestützten und propagandistisch motivierten Führerkults der Nationalsozialisten.