Die Wechselwirkung von Kunst, Reproduktion und Wahrnehmung – Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz

Im erneuten Rückgriff auf den Begriff der Aura konstatiert Benjamin für seine Zeit zwei menschliche Bedürfnisse, die direkte Auswirkungen auf die Aura haben: Erstens das Bedürfnis, sich ein Ding intellektuell und im Handeln anzueignen, es optisch und taktil wahrzunehmen und zu kategorisieren, die „Dinge sich räumlich und menschlich »näherzubringen«“ (Benjamin 2010: S. 19), sie zu erfassen und zu begreifen; zweitens zeigt die Masse die „Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion“ (Benjamin 2010: S. 20). Es wird das Allgemeine im Besonderen (Original) ebenso gesucht wie das Besondere im Allgemeinen.

Das Bedürfnis, sich der Bilder zu bemächtigen, um nicht selbst durch die Bilderflut überwältigt zu werden, ist ein nicht erst in heutiger Zeit zu beobachtendes Phänomen. Das Primat des visuellen Sinnes vor allen anderen hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon Georg Simmel als Charakteristikum des modernen Lebens (vor allem in der Großstadt) konstatiert. Dies führt unmittelbar zu dem Wunsch, „des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden“ (Benjamin 2010: S. 20).

Ja, mehr noch: Erst indem ich mir selbst „ein Bild mache“, bin ich in der Lage, Ereignisse, Dinge (und auch reproduzierte Kunstwerke) ein- und zuzuordnen. Diese Form der Welteroberung und Wirklichkeitsbewältigung führt zu einer massenhaften Produktion von Bildern und einer damit verbundenen Steigerung der Rezeptionsraten sowie zu einer nachhaltigen Veränderung der Apperzeption.
Beide Tendenzen – das Bedürfnis der räumlichen und menschlichen Aneignung sowie die Tendenz einer Überwindung des Einmaligen – führen zu einem Verfall der Aura und zur Bildung einer Lücke, die geschlossen werden will. Die Filmindustrie antwortet darauf mit dem Starkult, wie Benjamin unten ausführt.

3. DER FILM
3.1 AUF REPRODUZIERBARKEIT AUSGELEGT
Die Möglichkeit seiner technischen Reproduktion führt zu einer Veränderung der Kunst. Betrachtet man die Filmkunst jener Zeit, wird das qualitativ Neue an dieser Kunstform besonders offensichtlich: „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.“ (Benjamin 2010: S. 24) „In ihm [dem Film] ist als technisches Apriori die Einmaligkeit des Ortes des Originals gesprengt.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 248)

Bei Werken der Literatur, der Musik oder der bildenden Kunst ist die massenweise Reproduktion ein quasi von außen an das Kunstwerk herangetragener und (vor allem) durch ökonomische Interessen motivierter Prozess. Bei den Filmwerken jedoch kommt diese Motivation aus ihnen selbst und hängt eng mit dem filmischen Produktionsprozess zusammen: „Die technische Reproduzierbarkeit der Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet. Diese ermöglicht nicht nur auf die unmittelbarste Art die massenweise Verbreitung der Filmwerke, sie erzwingt sie vielmehr geradezu.“ (Benjamin 2010: S. 24)

Die Neuartigkeit des Films als eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks und seine grundsätzliche Andersartigkeit der Konzeption des Films, das Abfilmen kurzer Episoden aus unterschiedlichen Kamerapositionen, das szenische Posieren der Filmdarsteller vor der Apparatur, das Fragmentarische der Filmabschnitte, die Montage zum Endprodukt – all dies führt für Benjamin auch zwangsläufig zu Veränderungen der Apperzeption.

Noch entscheidender aber als diese veränderten Wahrnehmungsprozesse ist die Schlussfolgerung, die er aus dem Verschwinden des Kriteriums der Echtheit eines massenhaft reproduzierten Kunstwerks zieht: Durch seine massenhafte Reproduktion verliert das Kunstwerk seine ursprüngliche soziale Funktion. „An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre […] Fundierung auf Politik.“ (Benjamin 2010: S. 25)

3.2 WARENWERT
In diesem Zusammenhang muss man auch auf die ökonomische Funktion des Kunstwerks hinweisen: Im ökonomischen System der kapitalistischen Filmindustrie ist der Film (auch) eine Ware, die nach kommerziellen Zwecken konzipiert wird und sich den gängigen Marktmechanismen zu unterwerfen hat. Benjamin geht diesem wichtigen Aspekt in seinem Aufsatz jedoch nicht weiter nach, sondern konzentriert sich auf die politische Funktion der Kunst.

3.3 FOTOGRAFIE UND FILM ALS KUNST
Benjamin wendet sich gegen die Bestrebungen von Zeitgenossen wie Abel Gance, Séverin-Mars oder Alexandre Arnoux, den Kunstwert des Films mit Mitteln einer „überkommenen Ästhetik“ (Benjamin 2010: S. 33) zu erklären. Der Kunstwerkaufsatz nimmt vielmehr den Film zum Anlass, um eine „Transformation des Ästhetischen“ (Lindner/Küpper 2006: S. 233) zu konzipieren.

Gänzlich neu war der Film mit seiner fragmentarischen Konstruktion des Inhalts, den Sprüngen, Schnitten, Kamerafahrten, so dass das Publikum lange Zeit Schwierigkeiten hatte, dem rasanten Tempo der filmischen Erzählweise zu folgen. Aus filmhistorischer Sicht kann man auch die Beschleunigung des Tempos nachverfolgen, das von den ersten Stummfilmen mit vielen Standbildaufnahmen und langen Einblendungen von Zwischentiteln immer schnellere Wechsel von Bildsequenzen zuließ, bis schließlich mit dem Einzug des Tonfilms eine Geschwindigkeit der Bilderfolge erreicht wurde, die uns aus heutiger Sicht noch „normal“ erscheint.

Avantgarde-Filme wie Sergej Eisensteins „Potemkin“, die Experimentalfilme der Dadaisten oder auch filmische Kompositionen wie Walther Ruttmanns Großstadtfilm („Berlin, Sinfonie einer Großstadt“) bilden hier natürlich die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.

Nicht der Kultwert macht den Film zu einer Kunstform, denn im historischen Vergleich der Kunstformen hat der Film jeden Kultwert verloren. Vielmehr sind die Originalität seiner Komposition, das gänzlich Neuartige seiner Konstruktion und seine Erzählformen dafür verantwortlich, dass durch den Film – wie zuvor schon durch die Fotografie – der Kunstbegriff selbst einem Veränderungsprozess unterworfen wurde.

Der durch den Fortschritt der technischen Reproduktionsverfahren ausgelöste qualitative Wechsel von einem Kunstwerk, das reproduziert werden kann, zu einem von Anfang an auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerk wie dem Film, verändert die Welt der Kunst und muss somit zu einer Neudefinition des Kunstbegriffs selbst führen.

3.4 DIE APPARATUR
3.4.1 DARSTELLUNG DER REALITÄT VS. TRAUMFABRIK
Gleichzeitig hat jeder aufgrund seiner neu erworbenen Kompetenz auch einen Anspruch darauf, gefilmt zu werden. Benjamin führt als vorbildliches Beispiel den zeitgenössischen russischen Film an, der die Menschen nicht mehr als einen spielenden Darsteller zeige, sondern als sich selbst, in seinem Arbeitsprozess. „In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung. Unter diesen Umständen hat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln.“ (Benjamin 2010: S. 50)

Während also der sowjetische Film die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Realität und in ihren Umbrüchen darstellt, versucht die kapitalistische Filmindustrie, die Aufmerksamkeit der Massen von den prekären gesellschaftlichen Verhältnissen abzulenken und das Publikum in eine Traumwelt zu entführen, die ihr volles Interesse wecken und Sehnsüchte stillen soll. Die Traumfabrik Hollywoods wird von Benjamin nicht erwähnt, obwohl hier der Gegensatz zum politischen Film der Sowjetunion noch deutlicher hervortreten würde als gegenüber dem deutschen Propagandafilm.