Die Wechselwirkung von Kunst, Reproduktion und Wahrnehmung – Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz

2. DAS KUNSTWERK UND SEINE REPRODUKTION
Benjamin beginnt seine Ausführungen mit einem historischen Abriss der künstlerischen Reproduktionsverfahren. Hierbei unterscheidet er die manuellen von den technischen Verfahren. Zu Beginn der abendländischen Kunstgeschichte kannte man nur den Guss und die Prägung als Reproduktionstechniken für Bronzen, Terrakotten und Münzen. Die Erfindungen des Holzschnitts, des Kupferstichs und der Radierung führten zu einer weiteren Vereinfachung der technischen Reproduzierbarkeit von Graphiken, wobei die Erfindung des Steindrucks, der Lithographie, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einen qualitativen Sprung darstellt. Die Leichtigkeit, mit der die Feder über den Stein gezogen werden konnte, befähigte die Lithographie, „den Alltag illustrativ zu begleiten“ (Benjamin 2010: S. 10). Bereits wenige Jahrzehnte später wurde die Lithographie in dieser Funktion von der Fotografie abgelöst, die fortan das schnellste und aktuellste Medium werden sollte.

An dieser Stelle wechselt Benjamin die Perspektive von der Kunstbetrachtung zur massenmedialen Funktion der Illustration. Schneller als die zeichnende Hand des Lithographen erfasst das Auge des Fotografen das Ereignis. Noch schneller als die Fotografie kann jedoch der Film die Realität abbilden. Dies verleitet Benjamin zu der Aussage: „Wenn in der Lithographie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm.“ (Benjamin 2010: S. 11)

Diesem Vergleich liegt der Bezugspunkt der Geschwindigkeit zugrunde. Mit der Lithographie begann die Graphik „Schritt mit dem Druck zu halten“ (Benjamin 2010: S. 10), Gleiches gilt für die Fotografie und den Film: „Der Filmoperateur fixiert im Atelier kurbelnd die Bilder mit der gleichen Schnelligkeit, mit der der Darsteller spricht.“ (Benjamin 2010: S. 11) Durch ihre Existenz und aufgrund ihrer jeweiligen Schnelligkeit in Bezug auf die technische Reproduktion förderten sowohl die Lithographie als auch die Fotografie die Entstehung neuer Medienformate (illustrierte Zeitung bzw. Tonfilm und Wochenschauen). Die jeweiligen neuen Formate veränderten dann ihrerseits die Lese- und Sehgewohnheiten des Publikums.

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Standard erreicht, der nicht nur die Reproduktion aller überkommenen Kunstwerke ermöglichte, sondern die Reproduktion selbst zu einer Kunstform erhöhte und ihr „einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen“ (Benjamin 2010: S. 11) zuwies.

2.1 ECHTHEIT
Das Einzigartige des Kunstwerks ist sein Hier und Jetzt, seine Existenz an dem Ort, an dem es sich befindet. „Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ (Benjamin 2010: S. 13) Doch wann ist ein Kunstwerk „echt“? Unter dem Begriff der Echtheit einer Sache versteht Benjamin den „Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft“ (Benjamin 2010: S. 16)

Bezogen auf das Kunstwerk bedeutet das die Nachweisbarkeit seines künstlerischen Schöpfers und der Zeit seiner Herstellung sowie seine geschichtliche Kontextualisierung. Nehmen wir die Kathedrale, die von einem Baumeister entworfen und von den Bauleuten über viele Jahrzehnte erbaut wurde. Diese Bauleistung lässt sich nicht nur kunsthistorisch erfassen und einordnen (gotische Kathedrale), sondern auch ihre Funktion und Wirkung (Gotteshaus, Kunstgenuss) sowie die Zeugenschaft des Kunstwerks durch die Jahrhunderte untersuchen.

All dies kann von einer Fotografie der Kathedrale nicht gesagt werden: „Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit.“ (Benjamin 2010: S. 14) Doch genau das geschieht bei der technischen Reproduktion eines Kunstwerks, sei es eine Kathedrale, ein Chorwerk oder ein Gemälde: „Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, läßt sich in einem Zimmer vernehmen.“ (Benjamin 2010: S. 15)

2.2 AURA
Benjamin spricht im Zusammenhang mit der Echtheit auch von der Aura des Kunstwerks. Das Phänomen des Auratischen „ist von drei Kennzeichen geprägt, nämlich ‚Unnahbarkeit‘, ‚Echtheit‘ und ‚Einmaligkeit‘ der Objekte und ihrer Wahrnehmung.“ (Schöttker 2007: S. 211) Die Aura beschreibt jene schwer benennbare Qualität der Unnahbarkeit einer Sache, die mit den klassischen Begriffen des Schönen und Erhabenen nur unzureichend erfassen lässt. Es ist jene „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (Benjamin 2010: S. 19), die wir an einer Sache wahrnehmen, sei es jenes seltsam fremde Leuchten einer schönen Landschaft oder die Wahrnehmung der Einzigartigkeit und Erhabenheit einer Skulptur. „Aura ist bei Benjamin also keineswegs bloß etwas Numinoses, das sich jeder näheren Explikation entzieht, sondern durchaus ein Arbeitsbegriff, mit dem er historische Prozesse untersucht und den er dadurch mit neuen Bezügen anreichert.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 237)
Die Aura des Originals geht bei seiner Reproduktion verloren. Das Einmalige des künstlerischen Schaffensprozesses, wie es im Original seinen Ausdruck und seine Vollendung findet, geht bei der Kopie verloren und wird durch die technische Reproduktion zertrümmert.

2.3 KULTWERT UND AUSSTELLUNGSWERT
Ursprünglich lag die Fundierung des Kunstwerks im Ritual. In der rituellen Handlung fand das Kunstwerk seinen ersten Gebrauchswert, und dort war auch die Ursache für seine Aura zu finden. Das Kunstwerk besaß einen Kultwert, der ihm im Rahmen eines Rituals (beispielsweise einer magischen oder religiösen Handlung) zugewiesen wurde. „Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult.“ (Benjamin 2010: S. 21)

„Während der Kultwert im engsten Sinne Unzugänglichkeit und Verborgenheit meint, meint der Ausstellungswert des Kunstwerks eine simultane Sichtbarkeit für viele.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 240)
„In dem Maße, in dem der Kultwert des Bildes sich säkularisiert, werden die Vorstellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit unbestimmter.“ (Benjamin 2010: S. 22) War das Kultbild zunächst wertvoll aufgrund seiner Erscheinung im Rahmen des Rituals, so haben der „profane Schönheitsdienst“ (Benjamin 2010: S. 23) sowie die Bewunderung der künstlerischen Fähigkeiten und des Genies des Künstlers diese kultische Form der Aura in ihrer säkularisierten Form ersetzt.

Betrachten wir den Prozess der Rezeption eines Kunstwerks, so lassen sich sein Kultwert und sein Ausstellungswert als zwei Pole der Rezeption unterscheiden. Das Kultbild fand seinen Wert, wie bereits gesagt, ausschließlich im Ritual. Je mehr der Kultwert durch Säkularisation oder historischen Wandel verloren geht, umso relevanter wird der Ausstellungswert des Kunstwerks. „Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.“ (Benjamin 2010: S. 28)

Der Ausstellungswert rückt beim technisch reproduzierten Kunstwerk ganz in den Vordergrund, während der Kultwert völlig an Bedeutung verliert. Die vielfache Reproduktion zeichnet sich ja gerade durch ihre Allgegenwart und Verfügbarkeit aus. Das reproduzierte Kunstwerk durchläuft in der Reproduktion einen Prozess seiner Entortung und Zeitlosigkeit.
Anders als das echte Kunstwerk, das nur in seinem „Hier und Jetzt“ seine Echtheit findet, kann das auf Reproduzierbarkeit angelegte Kunstwerk alle Beschränkungen von Zeit und Raum überwinden und in einem Zustand permanenter Ausstellung überall und jederzeit verfügbar sein. Mit den digitalen Reproduktionsverfahren und dem Internet schließlich ist diese zeit- und raumlose „Atopie“ (Ortlosigkeit) des Kunstwerks Wirklichkeit geworden.

„Bei dem auf technische Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerk potenziert sich dieser Prozeß [der Auflösung seiner raumzeitlichen Fixierung]. Er führt auf der räumlichen Ebene zu dem, was man eine beschleunigte Entortung des Kunstwerks durch Multiplizierung nennen kann. Dem korrespondiert Wiederholbarkeit auf der zeitlichen Ebene.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 235)
Für Benjamin sind die Fotografie und der Film die beiden neuen Kunstformen, die die Bedeutung des Ausstellungswertes derart in den Vordergrund stellen, dass jene „quantitative Verschiebung zwischen […] beiden Polen […] in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt“ (Benjamin 2010: S. 29)

„Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal.“ (Benjamin 2010: S. 31) Sobald sich die Fotografie jedoch vom menschlichen Antlitz abwendet, wird sie zum auralosen Medium, das Orte wie menschenleere Tatorte dokumentiert. Diese Fotografien werden zu Beweisstücken im historischen Prozess. Hierin liegt auch die politische Funktion der Fotografie (und implizit natürlich auch im Film) verborgen. Es geht um Beweise und Belege – letztlich um die Ausstellung von historisch bedingten sozialen Tatbeständen. Der Kultwert wird zugunsten des Ausstellungswertes immer weiter zurück gedrängt.

Durch diese neue Gewicht, das auf dem Ausstellungswert des Kunstwerks liegt, wird es „zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag“ (Benjamin 2010: S. 29). Die „freischwebende Kontemplation“ (Benjamin 2010: S. 32) des Kunstfreundes ist den neuen Anforderungen an die Kunst nicht mehr gewachsen. Weitaus wichtiger als ihre rein ästhetische Funktion wird in Zukunft die politische Funktion der Kunst sein, die, als Benjamin seinen Kunstwerkaufsatz konzipiert, bereits seit mehreren Jahren vom deutschen Faschismus für seine Zwecke missbraucht wird.

2.4 ERSCHÜTTERUNG DES TRADIERTEN
Die Reproduktion erweist sich dem Original gegenüber als selbständiger. Ihre vielfache Herstellung eröffnet nicht nur ganz neue Möglichkeiten einer massenhaften Rezeption, was den besonderen Bedürfnissen des neuen Zeitalters der Massenbewegungen entgegen kommt, sondern es führt zu einer „gewaltigen Erschütterung des Tradierten“ (Benjamin 2010: S. 17), worin Benjamin die „Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit“ (Benjamin 2010: S. 17) sieht. Die politisch unruhigen Zeiten der 1930er Jahre mit ihren polarisierten politischen Systemen in Europa bilden für Benjamin nicht nur den gesellschaftspolitischen Hintergrund seiner Kunsttheorie, sondern auch die Grundlage seiner Argumentation für eine Politisierung der Kunst als Überwindung der (faschistischen) Ästhetisierung des politischen Lebens.

2.5 NEUE APPERZEPTIONSWEISEN
Auf der anderen Seite kann die Fotografische und filmische Reproduktion zu neuen Sichtweisen des Kunstwerks führen, die „nur der verstellbaren und ihren Blickpunkt willkürlich wählenden Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugänglich sind“ (Benjamin 2010: S. 15). Techniken wie Vergrößerung, Zeitraffer oder Zeitlupe verändern die Apperzeption und können (ähnlich wie psychoanalytischen Auswirkungen der massenhaften Rezeption der „Psychopathologie des Alltagslebens“ von Sigmund Freud, die Benjamin an anderer Stelle als Vergleich anführt), „in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption“ (Benjamin 2010: S. 58) bewirken.

Der Begriff bezeichnet die „Aneignung eines Gegenstandes durch das Zusammenspiel von sinnlicher und geistiger Wahrnehmung. Es wird von Benjamin ohne erkennbare Unterscheidung in gleicher Weise wie die Begriffe Wahrnehmung und zum Teil auch Rezeption […] verwendet.“ (Schöttker 2007: S. 211)

Gleichzeitig ist die technische Reproduktion in der Lage, das Kunstwerk aus seinem Hier und Jetzt herauszulösen, es von seinen Traditionen befreien und es in einen anderen Situationszusammenhang stellen. Die technische Reproduktion kann als Fotografie oder auch als Dokumentarfilm über die Kathedrale oder das Gemälde einer breiten Masse zugänglich gemacht werden, der die Rezeption des Originals nicht möglich war; „indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“ (Benjamin 2010: S. 16–17) Es ist jene Befreiung und Emanzipation des reproduzierten Kunstwerks von seinen raum-zeitlichen Fesseln, die seine massenweise Rezeption erst ermöglichen und damit auch seine politische Funktion andeuten, die Benjamin für die Kunst seiner Zeit in Anspruch nimmt.

Der Film (und hier besonders der Tonfilm) treibt diese Befreiungstendenzen weiter voran. Er ist die erste bereits von ihrem Ursprung her als reproduzierbar gedachte Kunstform, beim Film gibt es keine Unterscheidung zwischen Original und den massenweisen gezogenen Filmkopien.