Die Wechselwirkung von Kunst, Reproduktion und Wahrnehmung – Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz

1. EINLEITUNG: PERSPEKTIVE DES AUFSATZES
2.5.1 HISTORISCHE BEDINGTHEIT
Die Art und Weise, wie sich die Sinneswahrnehmung der „menschlichen Kollektiva“ (Benjamin 2010: S. 18) organisiert, ist „nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt“ (Benjamin 2010: S. 18). An dieser Stelle wird Benjamins methodologischer Ansatz deutlich, der sich an Marx und den Dialektischen Materialismus orientiert. Marx wies (in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, 1859) darauf hin, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Die Grundidee einer Wechselwirkung von Produktionsbedingungen und gesellschaftlichem Bewusstsein, von Unterbau und Überbau, wie sie im Dialektischen Materialismus zusammengefasst wird, bildet auch die Grundlage für Benjamins kunsttheoretische Arbeit.

Benjamin schreibt bereits 1935 in einem Brief an Werner Kraft, dass er „einige Fundamentalsätze der materialistischen Kunsttheorie gefunden“ habe, die er in seinem Kunstwerkaufsatz explizieren wird. Für ihn ist klar, dass die neuen Reproduktionstechniken (und hier in erster Linie der Film), die unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Kapitalismus entstanden sind und zu Benjamins Zeit vom deutschen Faschismus für dessen Interessen weiterentwickelt und eingesetzt werden, unmittelbaren Einfluss auf die Veränderung der Sinneswahrnehmung und Kunstrezeption der Massen haben müssen. Das Medium Film hat, wie wir unten sehen werden, zu neuen Darstellungsmöglichkeiten und kompositorischen Formen geführt, die auch auf den Bereich der „optischen Merkwelt“ der Menschen rückwirken.

Anders als für den in der Vergangenheit forschenden Historiker, der für seine Forschung auf das Vorhandensein von Dokumenten aus vergangenen Zeiten angewiesen ist, bietet sich für die Gegenwart die Möglichkeit einer direkten Beobachtung. Auf diese Weise lassen sich leicht die gesellschaftlichen Bedingungen aufzeigen, die zu „Veränderungen im Medium der Wahrnehmung“ (Benjamin 2010: S. 19) führen, die man als einen „Verfall der Aura“ (Benjamin 2010: S. 19) diagnostizieren kann.
„Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren »Sinn für das Gleichartige in der Welt« so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“ (Benjamin 2010: S. 20)

Ein dem Kunstwerkaufsatz vorangestellte Zitat von Paul Valéry weist auf die Notwendigkeit einer neuen Begrifflichkeit in der Kunsttheorie hin: „Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind“, so dass letztlich auch der Begriff der Kunst selbst sich verändert.
Zu Beginn seiner Ausführungen benennt Benjamin die ideologische Perspektive seines Aufsatzes. Er bezieht sich explizit auf Marx und den Dialektischen Materialismus. Erst heute (in den 1930er Jahren) seien die Entwicklungen des Überbaus zu jenen Zuständen gelangt, die Marx prognostiziert habe. „Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen.“ (Benjamin 2010: S. 7)

Was Benjamin plant, ist die Formulierung von „Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“ (Benjamin 2010: S. 7–8), also den kapitalistischen Marktbedingungen. Durch die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks genügen die überkommenen Kunstbegriffe wie „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“ (Benjamin 2010: S. 8) nicht mehr, um das Wesen der Kunst der Gegenwart zu erfassen; es werden neue Begriffe benötigt, die einerseits „für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar“ (Benjamin 2010: S. 8) sind und andererseits „zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik“ (Benjamin 2010: S. 8) benutzt werden können.

„Der Text ist ungemein dicht geschrieben; er sperrt sich gegen paraphrasierende Inhaltszusammenfassungen.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 231) Schon in der Einleitung hebt Benjamin hervor, dass es ihm nicht um die ‚Kunst des Proletariats nach der Machtergreifung, geschweige die der klassenlosen Gesellschaft‘ geht, sondern um die Darstellung von ‚Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen‘ geht, also den kapitalistischen.

„Der Kunstwerkaufsatz ist sehr viel grundsätzlicher, als es eine medientheoretisch verengte Rezeption gewahren wollte, im Feld der philosophischen Ästhetik verankert.“ (Lindner/Küpper 2006: S. 236)