3. Sprache als Untersuchungsgegenstand
Das Menschenbild von Karl Philipp Moritz ist klar durch jene neue Sicht der Anthropologie bestimmt, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend gegen ein metaphysisches Verständnis der menschlichen Seele als Substanz wendet und vom Zusammenhang von Leib und Seele ausgeht: „An die Stelle der Metaphysik tritt nun die Empirie.“
Ganz im Sinne dieser neuen Anthropologie geht es Moritz eben nicht mehr um ein von der Schulphilosophie Wolffscher Art dogmatisiertes Menschenbild, das Leib und Seele voneinander trennt und die Ursachen und Gründe menschlichen Handelns transzendiert. Vielmehr wird versucht, ein „commercium corporis et mentis“ vorauszusetzen und den wechselseitigen „influxum“ empirisch nachzuweisen. Doch es geht Moritz nicht allein um die menschliche Seele, sondern um ein empirisch-theoretisches Verständnis des ganzen Menschen:
„Der Mensch der Erfahrungsseelenkunde ist ein empirisches Wesen inmitten empirischer Bedingungen, ist Produkt seiner Geschichte. Von Anfang an fließen ihm Ideen zu, die ihn prägen und konstituieren. Die empirisch-kausale Fragestellung des Magazins thematisiert ihr Objekt als geschichtlich geworden, als Konkretionsort vorgängiger Daten etwa – bei Moritz zurückgedrängt – psychologischer und insonderheit soziologischer Art.“
Zentrales Thema ist und bleibt für Moritz auch und gerade im Magazin die Beschäftigung mit der Sprache. Das Studium der Sprache, schreibt Moritz gleich im ersten Beitrag zur „Sprache in psychologischer Rücksicht“, war „eine meiner vorzüglichsten Beschäftigungen“. Das Magazin sei „der schicklichste Ort“, an dem er seine Betrachtungen über die Sprache weiter ausführen könne und wolle, schreibt Moritz weiter.
Es geht ihm bei der Beschäftigung mit der „Sprache in psychologischer Rücksicht“ auch um die Affekte, die Sprache auszulösen im Stande ist, denn diese ersten Ausdrücke des Empfindens enthielten „zuweilen mehr Philosophie, als in dem feinsten und kältesten Räsonnement des gebildeten Philosophen“ zu finden sei.
Wie sehr Moritz die Sprache immer wieder mit philosophischen Überlegungen verbindet, sei an einem konkreten Beispiel repräsentativ verdeutlicht. In seiner „Revision der ersten drei Bände“ des Magazins von 1786 schreibt er unter anderem:
„Allein sobald eine Idee von einem andern Wesen aus und auf mich übergeht, und ich z.B. sage: du siehst mich [im Originaltext fett; R.K.], finde ich nicht den mindesten Widerstand, mir mein Ich als Objekt oder außer mir zu denken. Die reflektierte Denkkraft macht, daß ich mich selbst nun außer mir erblicke, so wie man vermittelst der zurückgeworfenen Lichtstrahlen sein Antlitz im Spiegel sieht.“
Abgesehen von der sprachliche Ebene geht es hier vor allem um die philosophische Frage nach dem Bewusstsein und seiner Selbstwahrnehmung. Dank seiner Fähigkeit zur Reflexion ist das Ich in der Lage, sich selbst als Objekt – als etwas außerhalb seiner selbst – wahrzunehmen, indem es seine Aufmerksamkeit auf den Anderen verlagert. – Dieser Textauszug verweist außerdem auf den Aspekt der Alterität und der philosophischen Beschäftigung mit dem Anderen.
Derartige Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen finden sich häufig in Moritz´ Texten. – Die Erklärung ist simpel: In jener Zeit vor 1800 waren die Wissenschaftsdisziplinen noch nicht getrennt, sondern begannen sich gerade erst im Zuge der Spätaufklärung zu differenzieren. Dies gilt auch und ganz besonders für die Erfahrungsseelenkunde, nicht zuletzt ausgelöst durch Karl Philipp Moritz und sein Magazin-Projekt.
Die Interdisziplinarität in den Texten von Moritz wird auch deutlich, wenn wir uns den folgenden Auszug aus der „Fortsetzung der Revision der ersten drei Bände dieses Magazins“ von 1786 ansehen:
„Unsre Vorstellungen sind die Mahlerei der Welt, sie können nur darstellen, was auf einmal da ist – unsre Sprache ist die Musik unsrer Vorstellungen – sie schildert das aufeinanderfolgende, sie läßt unsre Gedanken, unbeschadet des Gegenwärtigen, in die Vergangenheit und in die Zukunft schweifen – bewahrt in dem kleinen Umfange von vierundzwanzig artikulirten Tönen, den Schatz der jedesmaligen Denkbarkeit irgend eines Stücks aus der ganzen ungeheuren Ideenwelt auf.“
Enger als in diesem Absatz könnte die Verbindung von Sprache, Wahrnehmung, Einbildungskraft und rationalem Verstand kaum sein. Die Beschreibung der Wahrnehmung in ihrem räumlichen Nebeneinander und zeitlichen Nacheinander schlägt ebenso eine Brücke zu Kant, der die Kategorien von Raum und Zeit als apriorisch für jede Wahrnehmung postuliert hat. In seinen Beiträgen verknüpft Moritz Psychologie, Sprache, Philosophie und Anthropologie – und gerade diese (aus heutiger Sicht interdisziplinäre) Methodik macht seine Texte so interessant.
Damit Sprache überhaupt zu einem Gegenstand psychologischer Untersuchung werden kann, bedarf es jedoch der Annahme und Vereinbarung eines gemeinsamen semantischen Verständnisses des Ausgesagten. – Was meinen wir, wenn wir X sagen, und versteht der Andere unter X dasselbe in all seinen Facetten wie der Aussagende?
Interessanterweise wird gerade dieses grundsätzliche Problem der sprachlichen Vermittlung von Inhalten im Magazin nicht thematisiert. Analog zum Schluss von der Selbst-Beobachtung auf die Beobachtung des Anderen wird unhinterfragt von einer gemeinsamen sprachlichen Basis ausgegangen, die auch in ihren Konnotationen transparent und allgemein verständlich bleibt. Doch letztlich bietet sich uns auch gar keine Alternative: Die Sprache, so Moritz, sei das einzige, woran wir uns halten können, „um in das innre Wesen unsrer eignen Begriffe, und eben dadurch in die Kenntniß unserer Seele einzudringen“.
In diesem Sinne kann Moritz´ Aussage im „Vorschlag-Text“ – „Wer sich zum eigentlichen Beobachter des Menschen bilden wollte, der müßte von sich selber ausgehen. […] Von der geheimen Geschichte seiner eignen Gedanken müßte er durch Gesicht, Sprache und Handlung auf die Seele andrer schließen lernen.“ – auf sein Verständnis der sprachlichen Beobachtungen und Aussagen übertragen werden.
3.1 Die Beiträge zur „Sprache in psychologischer Rücksicht“
Während des insgesamt zehnjährigen Erscheinens des Magazins – unter wechselnder Herausgeberschaft und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – finden sich mehrere Rubriken und zahlreiche Beiträge, die sich mit Sprache und den seelischen Auswirkungen ihrer Verwendung beschäftigen. Neben den hier bereits mehrfach erwähnten Beiträgen zur „Sprache in psychologischer Rücksicht“, die zunächst ausschließlich (und in den späteren Jahren oft auch) von Moritz selbst stammen, sind vor allem die Beobachtungen von Taubstummen von sprachpsychologischer und sprachphilosophischer Relevanz.
Sprache und Denken gehören für Moritz untrennbar zusammen, und Sprachrichtigkeit ist „kein bloßer Selbstzweck, sondern die unverzichtbare Voraussetzung eines vernünftigen, wahrheitsfähigen Räsonierens“. Moritz folgt seinen eigenen methodischen Vorgaben, deren Einhaltung er auch von den anderen Beiträgern des Magazins fordert:
Der Einzelfall und der konkrete Sprachgebrauch sind für ihn interessanter als der Bau eines Theoriemodells, aus dem sich dann einzelne Fälle ableiten lassen. So wendet er sich den Wortklassen zu, behandelt Fragen der Syntax, untersucht die Wirkung der Verwendung von Pronomina oder macht sich Gedanken über die unpersönlichen Zeitwörter, über Präpositionen oder die Fugen des Verbums.
Was zunächst wie ein Hinabsteigen in die Tiefen der Grammatik und eine heuristische Auswahl beliebiger Themen erscheint, „erweist sich bei genauerer Analyse als durchaus selbständige Sprachtheorie, die in vieler Hinsicht nicht nur manchen Ideen Wilhelm von Humboldts ähnelt, sondern schon auf Ansätze des 20. Jahrhunderts vorgreift“ – wie etwa auf den Strukturalismus.
So schreibt Moritz z.B. über die unpersönlichen Zeitwörter:
„Aus allen diesem erhellet, daß die unpersönlichen Zeitwörter das bezeichnen, was sowohl in unsrem Körper, als in den innersten Tiefen unsrer Seele vorgehet, und wovon wir uns nur dunkle Begriffe machen können; und daß wir durch das unpersönliche es dasjenige anzudeuten suchen, was außer der Sphäre unsrer Begriffe liegt, und wofür die Sprache keinen Nahmen hat.“
Ähnlich fundamentale Erkenntnisse hat Moritz in Bezug auf die Präpositionen. In der Präposition „um“ findet er einen Verhältnispunkt, mit dessen Hilfe wir unseren Standort festlegen und die Welt „um uns herum“ erklären können: „Aus der Präposition um […] scheinet auch die Frage warum entstanden zu seyn, welche sich bei allem, was wir Denken unsrer Seele aufdringt, weil sie ein nothwendiges Bedürfniß des Denkens ist.“ Das Warum „ist gleichsam der Mittelpunkt unsrer Vorstellungen“.
Besonders aufschlussreich ist die „Revision der ersten drei Bände dieses Magazins“, die Karl Philipp Moritz in den ersten beiden Stücken des 4. Bandes (1786) nachreicht und in der er auch noch einmal die Absichten und Erwartungen resümiert, die er mit seinen sprachtheoretischen Beiträgen im Magazin verband.
Seine Ausführungen zum metaphorischen Gebrauch der Sprache für die Beschreibung abstrakter Zusammenhänge, die er anhand von Beispielen zur metaphorischen Bedeutung von Vorstellung, Begriff, Denken und anderen Termini veranschaulicht, haben wir bereits weiter oben behandelt. Doch spätestens wenn Moritz über das „Seyn“ in Raum und Zeit reflektiert und das „Daseyn Gottes“ mit einer ontologischen Raumzeitlichkeit identifiziert, wird klar, dass sich Moritz´ Ausführungen zur Sprache immer in einem diskursiven Kraftfeld zwischen Philosophie, Psychologie und Anthropologie bewegen.
4. Zusammenfassung
Es war das Anliegen dieser Hausarbeit, die zentrale Bedeutung der Sprache in ihrer verschriftlichten Form für die literarische Anthropologie vor 1800 am Beispiel von Karl Philipp Moritz´ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ herauszuarbeiten.
So konnte gezeigt werden, dass Sprache nicht nur in ihrer verschriftlichten Form als Text die instrumentale Basis menschlicher Erkenntnis sowie das hauptsächliche Vermittlungsmedium des Magazins ist, sondern in ihrer Doppelrolle auch selbst zum Gegenstand anthropologischer (und hier besonders psychologischer) Untersuchungen wurde.
Der enge methodologische Nexus zwischen Sprache und empirischer Beobachtung machte das Magazin zu einer empirisch-theoretischen Datensammlung seelischer Phänomene und zu einem bevorzugten Ort sprachtheoretischer Reflexion. Somit war das Magazin als neues psychologisches Diskursmedium in seiner Sprachbasiertheit und –zentriertheit grundlegend und richtungsweisend sowohl für die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der empirischen Psychologie als auch für die seinerzeit neu entstehenden Forschungsgebiete der Sprachpsychologie und Sprachtheorie.
Das Hauptcharakteristikum der Beschäftigung mit Sprache im Magazin ist die offensichtliche Interdisziplinarität der empirisch-theoretischen Betrachtungen. In der Zeit vor 1800 sind die Wissenschaften noch eng miteinander verbunden, und die Philosophie als Mutter aller Wissenschaften steht mit ihrer Reflexivität quer zu aller naturwissenschaftlichen Praxis. Bald werden sich die Naturwissenschaften differenzieren und ihre je eigene Dynamik entwickeln – ein Prozess, der, bezogen auf die Erfahrungsseelenkunde, maßgeblich durch Karl Philipp Moritz und sein Magazin-Projekt angestoßen wurde. Die Philosophie jedoch bildet weiterhin als reflexive Kulturtechnik den immanenten Kern jeder Einzelwissenschaft.