2. Sprache als Instrument menschlicher Erkenntnis
2.1 Die Sprachphilosophie der Spätaufklärung
Sprache gehörte als das leistungsfähigste Instrument der menschlichen Kommunikation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den Hauptthemen der Aufklärungsphilosophie. Im Mittelpunkt stand zunächst die Frage nach dem Ursprung des Sprachvermögens: Ist Sprache angeboren und somit ein göttliches Geschenk, oder entsteht Sprache aus sozialer Notwendigkeit, indem sich, ausgehend von der Imitation von Tierlauten, immer weitere Verfeinerungen einer Lautsprache ergeben, die sich mit der Zeit etabliert, indem sie vereinbart und erlernt wird?
Versteht man die Aufklärung als die Epoche der Entdeckung der Subjektivität, so beinhaltet diese Hinwendung zum Menschen auch die bevorzugte Untersuchung menschlicher Eigenschaften, allen voran der Sprache. Descartes, Locke, Leibniz, Voltaire, Condillac, Rousseau, Herder und viele andere beschäftigten sich ausführlich mit der Sprache als Zentralmedium und Ausdruck menschlicher Sozialität. Stellvertretend für diese allgemeine Suche nach dem Ursprung der Sprache in der Sprachphilosophie der Aufklärungszeit seien hier Jean-Jacques Rousseau und Johann Gottfried Herder mit ihren Abhandlungen zur Sprache genannt.
Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) und Rousseaus sprachrelevante Passagen in seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ (1755) beschäftigen sich mit den Ursprüngen und den Entwicklungsprozessen der Sprache. Damit verfolgen beide ein anderes Ziel als Karl Philipp Moritz, dem es – zumindest nicht mehr vorrangig – um die Frage nach dem Ursprung der Sprache und dem Spracherwerb geht, sondern um die Frage der richtigen Sprachverwendung. Insofern gilt Moritz´ Aufmerksamkeit in erster Linie sprachpsychologischen Themen, wie wir unten noch genauer sehen werden.
Während auch Karl Philipp Moritz noch in seinen „Unterhaltungen mit meinen Schülern“ (1781) bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache religiös argumentiert und ihren Ursprung in Gott sieht, ändert sich sein Standpunkt spätestens seit der Zeit des Magazin-Projektes grundlegend.
„Von nun an wird Moritz die Sprache in erster Linie für ein Abbild der menschlichen Seele halten und sie von einem psychologischen Gesichtspunkt aus studieren. Indem Moritz die Sprache aus einer zu seiner Zeit außergewöhnlichen Perspektive – der psychologischen – untersucht, nimmt er innerhalb der Zeitdiskussion eine neue Stellung ein.“
Als Karl Philipp Moritz mit seinem Magazin-Projekt begann, hatte Immanuel Kant kurz zuvor (1781) seine „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlicht und damit in Bezug auf die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Verstandes eine Brücke zwischen Rationalismus und Empirismus geschlagen. Nach Kant ist der menschlichen Erkenntnis in der Regel die sinnliche Erfahrung der Realität vorgängig, wenn man einmal von den analytischen und synthetischen Urteilen a priori absieht. Wir erfahren die Welt durch unsere Sinnlichkeit, um sogleich die ästhetischen Wahrnehmungen mit Hilfe unseres rationalen Verstandes zu erkennen, zu begreifen, zu ordnen und zu bewerten.
Übertragen wir Kants Modell der menschlichen Erkenntnis auf die Phänomene der Psychologie, so wird deutlich, dass Karl Philipp Moritz als Kind seiner Zeit für die Entwicklung seiner Erfahrungsseelenkunde denselben Weg vor- und einschlagen muss: Wir beobachten psychische Phänomene bei uns selbst und bei anderen Menschen. Zunächst bewegen wir uns also ungefiltert im Bereich der empirischen Wahrnehmung; erst in einem zweiten Schritt beginnen wir mit unserem Verstandesdenken das sinnlich Wahrgenommene zu evaluieren und zu systematisieren.
Genau diese Verfahrensweise schlägt Moritz in seinem „Vorschlag“-Text für das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ vor. Beobachtung und Wahrnehmung, Bewertung und Einordnung spielen sich jedoch niemals in einem sprachlosen Raum ab, sondern sind nahezu zeitgleich von einer sprachlichen Textur durchzogen. Was wir nicht benennen können, das macht uns sprachlos. Wofür wir keine Worte finden, das können wir – abseits von der Verblüffung, die wir ausdrücken könnten – den Anderen nicht mitteilen.
Die Beschreibung seelischer Vorgänge und menschlicher Verhaltensweisen in Form eines schriftlichen Beitrags für das Magazin nimmt lediglich den Akt der eigenen Beobachtung bzw. des Experiments vorweg und liefert das durch einen fremden, subjektiven Beobachter gefilterte Ergebnis jener Beobachtung.
Und auch im Fall einer Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung werden wir als Leser gleichwohl mit einer subjektiv-selektiven Beschreibung seelischer Phänomene konfrontiert. Somit steht die Beobachtung seelischer Phänomene sowohl bei uns selbst als auch bei dem Anderen vor demselben Dilemma der (bewussten oder unbewussten) Selektion und Reduktion der Vielschichtigkeit jener Phänomene sowie der systemischen Gefahr einer unwillkürlichen konnotativen Verzerrung der beobachteten und beschriebenen psychischen Prozesse.
Hierbei bedienen wir uns immer einer gegenständlichen Sprache. Wo wir von abstrakten Dingen reden, gebrauchen wir das Stilmittel der Metapher. Wir reden in Bildern, die das Abstraktum in ein Konkretum verwandeln, das möglichst viele Eigenschaften / Akzidentien mit dem Abstraktum teilt. Karl Philipp Moritz ist sich dieser Hilfskonstruktion bewusst, wenn er schreibt: „Wir müssen daher, so oft wir uns über etwas Unkörperliches ausdrücken wollen, beständig in Metaphern reden.“