Die Doppelrolle der Sprache im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ von Karl Philipp Moritz

1. Einleitung
Die folgende Betrachtung der Doppelrolle der Sprache in ihrer verschriftlichten Form im Kontext der literarischen Anthropologie vor 1800 bezieht sich auf das von Karl Philipp Moritz konzipierte und realisierte „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ – im Folgenden kurz Magazin genannt – und beschränkt sich hierbei noch einmal auf die Untersuchung der Beiträge zur „Sprache in psychologischer Rücksicht“, weil sowohl das Magazin als auch jene sprachpsychologischen Beiträge als repräsentativ für das Anliegen und charakteristisch für die Methodik der literarischen Anthropologie gelten können.

Es soll gezeigt werden, dass die Sprache für die literarische Anthropologie – vor allem in ihrer verschriftlichten Form als Text – sowohl zum unhintergehbaren Medium menschlicher Erkenntnis als auch zum Gegenstand anthropologischer Untersuchungen wurde.

So soll zunächst ein kurzer Abriss der zeitgenössischen Sprachphilosophie und die Beschäftigung Karl Philipp Moritz´ mit Sprache in das Thema einführen. Sodann wird die Funktion der Sprache als Zugang zur Welt und zur Formulierung unserer Gedanken, also die Sprache als Erkenntnisinstrument, behandelt. In dem darauf folgenden Abschnitt wird es um die Sprache als Objekt anthropologischer (und hier besonders psychologischer) Betrachtungen gehen, wie sie vor allem von Karl Philipp Moritz in seinem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ angestellt wurden. Anhand von wenigen Textabschnitten soll kurz die Verfahrensweise von Moritz demonstriert werden.

Die Zeit der Spätaufklärung
Während die Mehrheit populärwissenschaftlicher Publikationen jener Zeit, wie Lavaters bekannte Schriften zur „Physiognomik“ oder auch Johann Christian Krügers „Experimentalseelenlehre“, noch für ein rationalistisches Wissenschaftsmodell mit deduktiver Methodik in der Tradition von Christian Wolff standen, leitete Ernst Platner 1772 mit seiner „Anthropologie für Ärzte und Weltweise“ eine „anthropologische Wende“ ein, indem er die Anthropologie zu einer neuen Wissenschaft vom ganzen Menschen machte. In dieser Entwicklungslinie steht auch die im ausgehenden 18. Jahrhundert entstehende „Erfahrungsseelenkunde“ als neue Wissenschaft von der menschlichen Seele und als Vorläufer der modernen Psychologie.

Die Entdeckung des Subjekts in der Zeit der Aufklärung sowie das zunehmende anthropologische Interesse am ganzen Menschen verbanden sich mit der autobiographischen Schreibtendenz jener Epoche zu einem vor allem und in erster Linie über den literarischen Text vermittelten Zugang zur Erkenntnis.

„Die in der Spätaufklärung nicht mehr wegzuraisonnierenden Probleme ambivalenter menschlicher Existenz fordern Ursachenforschung und Klärungsversuche gleichermaßen.“ Dies geschieht vor allem in und durch das Medium Literatur und durch literarisch angeregte Diskurse.

Die Welt des Pietismus
Das stark religiöse Milieu der Reformbewegung des Pietismus, in dem auch Karl Philipp Moritz aufwuchs, war von dem Gedanken beflügelt, dass jeder Gläubige einen individuellen Zugang zum Seelenheil finden könne und müsse. Mit Hilfe einer genauen Selbstbeobachtung, einer täglichen Analyse der eigenen Seelenverfassung sowie dem Führen von Seelen-Tagebüchern wurde unter anderem ein enger Nexus zwischen Empfindsamkeit und Sprache in ihrer verschriftlichten Form geschaffen.

Die Erfahrungsseelenkunde als eine empirisch-theoretische Untersuchung seelischer Phänomene kann, worauf Fritz Stemme hinweist, als eine Säkularisierungsform des Pietismus und als eine direkte Folge jener intensiven Selbstbeobachtung verstanden werden. Da der Pietismus aus einer Abwehrhaltung gegen alle Orthodoxie, gegen das Formale und Verstandesmäßige der Kirche und in Auflehnung gegen die kirchliche Unterdrückung der vor allem sinnlichen Glaubenserlebnisse erwachsen war, machte man sich auch zunächst keine Gedanken über die taxonomische Einordnung seelischer Erfahrungen und die theoretische Begründung der Analysen.

Diese vorläufige Ablehnung einer theoretischen Begründung und Kategorisierung seelischer Phänomene findet man auch in Karl Philipp Moritz´ “Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde“ (1782), wenn er fordert, dass alle „diese Beobachtungen erstlich unter gewissen Rubriken in einem dazu bestimmten Magazine gesammlet, nicht eher Reflektionen angestellt, bis eine hinlängliche Anzahl Fakta da sein, und dann am Ende dies alles einmal zu einem zweckmäßigen Ganzen geordnet“ werden soll. Entscheidend ist hierbei die Forderung von Moritz, dass die bei einer heuristischen Datensammlung zwangsläufig entstehenden „Lücken nicht durch leere Spekulazionen zugestopft, sondern durch Tatsachen ausgefüllt“ werden.

„Die enge Verbundenheit des Pietismus mit dem Psychologischen überhaupt ist einer der wesentlichen Gründe dafür, daß man den Schritt vom Pietismus zur Psychologie so unbehindert machen konnte.“ Weitere Gründe lagen sicherlich in der zeitgenössischen Beschäftigung mit dem Menschen als ganzem Menschen, mit der Subjektwerdung des Menschen der Aufklärung, der Befreiung des menschlichen Verstandesdenkens aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant es nannte, sowie der Loslösung von einem teleologischen und religiös verstellten Blick auf die Welt.

1.3 Karl Philipp Moritz und die Beschäftigung mit der Sprache
Die Säkularisierung des Pietismus findet ihren Widerhall in der Säkularisation von Karl Philipp Moritz selbst. Seine intensive Beschäftigung mit den seelischen Zuständen und die distanzierte Beobachtung psychischer Funktionsmechanismen bilden die Voraussetzungen seiner Emanzipation von der eigenen pietistischen Erziehung sowie die Grundlagen seiner Selbst-Säkularisation. Karl Philipp Moritz verarbeitet seiner Sammlung psychologischer Einzelbeobachtungen in seinem „Anton Reiser“ sowie im Magazin, und vice versa. Beide Medien stehen in einem wechselseitigen Austausch; ganze Abschnitte aus dem Anton Reiser erscheinen im Magazin, und das Magazin beeinflusst wiederum seine Arbeit am Anton Reiser. Der subjektive Säkularisierungsprozess von Moritz findet seinen objektiven Ausdruck in den von ihm geschaffenen Texten. „Ursprüngliche Gotterkenntnis […] wurde ‚Erfahrungsseelenkunde‘, Erbauung […] wurde Ästhetik, Literatur, Kunstwerk.“

Moritz hat sich bereits sehr früh mit Sprache beschäftigt, so in seinen „Unterhaltungen mit meinen Schülern“ (1781), seinen kleineren Abhandlungen zum richtigen Sprachgebrauch und in seiner „Deutschen Sprachlehre für die junge Dame“ (1782). Bevor wir uns den Moritzschen Beiträgen zur „Sprache in psychologischer Rücksicht“ zuwenden, soll zunächst im folgenden Abschnitt die Funktion der Sprache als Medium menschlicher Erkenntnis ins Blickfeld gerückt werden.