Interview mit Norman Ohler am 16.10.15 auf der Frankfurter Buchmesse über sein Buch „Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich“

Norman Ohler (C) Joachim GernRALPH KRÜGER: Als Ihr Buch vom Kiepenhauer-Verlag angekündigt wurde, dachte ich zunächst spontan: Bitte nicht noch ein weiteres Buch über das Dritte Reich! Aber Ihr Buch gibt der ganzen Geschichtsschreibung ja noch einmal einen ganz anderen „Twist“, und es hat mich verblüfft, dass man auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch etwas finden kann, das unser Bild vom Nationalsozialismus derart radikal verändert. Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Buch gekommen?

NORMAN OHLER: Die Idee zu diesem Buch war eigentlich ein bisschen verrückt, so wie mein Buch ja auch ein bisschen verrückt ist: Ein Freund von mir, der DJ im Club der Visionäre ist, einem Berliner Underground-Club, kam zu mir und sagte: Hast Du schon gehört, dass die Nazis total viele Drogen genommen haben? – Ich: Nee, hab´ ich noch nie gehört, aber glaube ich sofort! Irgendwie habe ich sofort gespürt, dass da was dran ist, und dann hat er gesagt, lass´ uns doch ’n Drehbuch schreiben! Dann haben wir tatsächlich in einer langen Nacht einen Drehbuchentwurf runtergehackt und dabei auch ganz viel erfunden. Aber es ging schon um Metamphetamin und um die Soldaten und wie das dahin kam, wie also die Droge Metamphetamin aus der Zivilgesellschaft in die Militärgesellschaft gelangt. Dann habe ich aber gedacht, ich müsste das wirklich mal recherchieren, was wirklich die Fakten sind, und bin in die Archive gestiegen und habe dann gesehen, dass hier mehr als Fiktion schlummert, und somit war mir klar, dass hier ein Sachbuch viel nahe liegender sein würde als ein neuer Roman. Ich habe dann überlegt, ob ich ein Sachbuch schreiben kann, denn ich bin ja kein klassischer Sachbuchautor, aber im Grunde kann ja jeder ein Sachbuch schreiben. Ich schreibe halt gerne und so habe ich gedacht, ich schreibe jetzt ein Sachbuch. So habe ich diese Aufgabe angenommen, und auch mein Verleger hielt bei diesem Thema ein Sachbuch für geeigneter. Auf diese Weise ist das ganze Projekt innerhalb von fünf Jahren gewachsen und entstanden.

RALPH KRÜGER: Wobei Sie ja durchaus auch die berufliche Qualifikation besitzen, um Sachbücher schreiben zu können. Sie haben ja die Hamburger Journalistenschule besucht.

NORMAN OHLER: Das stimmt. Ich habe ja bei Wolf Schneider gelernt, dem Sprachexperten schlechthin. Ich hatte damals auch ein leicht gespanntes Vehältnis zu ihm und hatte jetzt 25 Jahre nichts mehr von ihm gehört. Vor zwei Wochen kam dann ein Brief von ihm, in dem er meint, ich hätte Großes geleistet. Ich bin also jetzt auch in Wolf Schneiders Ansehen wieder gestiegen. – Ich habe damals sicherlich schon eine gute Grundausbildung bei ihm genossen, obwohl ich mich selbst niemals als Journalisten verstanden habe. Ich fühle mich dadurch zu sehr eingeengt. Ich schreibe eben gerne lange Texte, und als Journalist sind die Texte oft sehr kurz. Das liegt mir eher nicht so. Mir ging es vor allem darum, einen lesbaren und bei aller Schwere des Themas auch einen unterhaltsamen Text zu schreiben. Es sollte ein Pageturner werden, das war mein Anliegen.

RALPH KRÜGER: Das ist Ihnen auf jeden Fall gelungen. Man kann solch ein Buch ja auf verschiedene Weise schreiben – als Forschunbgsbericht, als trockene wissenschaftliche Abhandlung; das Faszinierende an Ihrem Buch ist jedoch, dass es Ihnen trotz aller Wissenschaftlichkeit, die in dem Text enthalten ist, einen Stil gefunden haben, der den Leser mitreißt und immer wieder neugierig macht. Eigentlich liest sich Ihr Buch über weite Strecken wie ein Krimi, und man ist immer wieder verblüfft, wie fiktiv viele Sachverhalte wirken. Teilweise könnte man die Dinge auch in einer Fiktion nicht besser erfinden, als es in Wirklichkeit war.

NORMAN OHLER: Deswegen wurde es auch kein Roman. Denn die Wahrheit ist in diesem Fall so faszinierend, dass man gar nichts erfinden muss. Ich habe ja mit dem Historiker Hans Mommsen zusammen gearbeitet; der hat immer ganz interessiert gelesen, was ich geschrieben habe, und er sagte irgendwann einmal: Herr Ohler, Sie schreiben ja gar kein langweiliges historisches Sachbuch…! – Da meinte ich: Nein, genau das schreibe ich nicht. Aber das scheint in Deutschland immer noch wirklich ungewöhnlich zu sein.

RALPH KRÜGER: Hans Mommsen hat sich ja auch im Nachwort ganz überschwänglich zu Ihrer Arbeit geäußert und unter Anderem gemeint, dieses Buch würde das Gesamtbild ändern, das wir bislang vom Nationalsozialismus hatten.

NORMAN OHLER: Und jetzt hat ja auch noch Ian Kershaw für Penguin Random House, die die englischen Rechte gekauft haben, mein Buch probegelesen und letzt Woche auch noch seinen Blurb dazu gesteuert. Kershaw hat mein Buch auch sehr gelobt, immerhin ist er ja der Hitler-Experte, und das war dann auch noch einmaal eine Bestätigung für mich, dass ich mit meinen Schlussfolgerungen nicht ganz falsch liege. Kershaw hat diese enge Verknüpfung selbst ja nicht gesehen, und in meinem Buch kritisiere ich ja auch Kershaw deswegen. Aber er selbst sagt jetzt auch: Dieses Buch hat gefehlt, und was da drin steht, ist wichtig.

RALPH KRÜGER: Ich finde das auch nach wie vor erstaunlich, dass selbst nach siebzig Jahren intensiver Forschung die Historiker da nicht mit der Nase drauf gestoßen sind. Wenn man sich die Geschichte des Nationalsozialismus in seinen Greueltaten und Exzessen anschaut, ist es fast nahe liegend, dass da auch Drogen mit im Spiel sein mussten. Ich nehme an, dass Sie besonders tief in den Archiven graben mussten, bis Sie auf Ihre Quellen gestoßen sind?

NORMAN OHLER: Als mir mein Freund erzählte, dass die Nazis Drogen konsumiert hatten, war das für mich gleich völlig plausibel. Und auch Hans Mommsen sagte schon in unserem ersten Treffen nach fünf Minuten: Ich glaube das alles, ich verstehe das alles, und das ändert für mich das gesamte Bild, wie ich das sehe. Er hat in die Unterlagen geguckt und das sofort einordnen können. Das war demnach dieser Baustein, der noch gefehlt hat. Das war schon erstaunlich und hat mich auch immer wieder enthusiastisch gemacht bei der Arbeit.

RALPH KRÜGER: Vor einigen Jahren gab es schon einmal ein Buch, das sich mit der Verwendung von Drogen im Dritten reich beschäftigte: „Nazis on Speed“…

NORMAN OHLER: … von Werner Pieper. Ja, er war auch gestern hier am Messestand. Ich habe Piepers Buch natürlich gelesen und ihm auch mein Buch mit einer Widmung geschickt, denn er hat mir viele Denkanstöße gegeben. Ich beziehe mich auch immer mal wieder auf Piepers Buch, aber er hat seine Abhandlung ganz anders angelegt als ich.

RALPH KRÜGER: Kommen wir ganz kurz auf die Thematik zu sprechen. Der erste Stoff, den Sie in Ihrem Buch behandeln, hat auch diesen wundervollen Markennamen: Pervitin. Das klingt ja auch schon fast wieder wie Fiktion: Wie hieß die Nazi-Droge Nummer Eins? – Pervitin! Das kann man sich doch eigentlich nicht absurder ausdenken, oder?

NORMAN OHLER: Ich finde es in der Tat auch interessant, wie wichtig diese Markennamen sind. Denn die Hitlerdroge , das Eukodal, das kennt heute kaum noch jemand. Hingegen kennt jeder das Heroin, nicht zuletzt auch weil Heroin einfach ein großartiger Produktname ist…

RALPH KRÜGER: In diesem Zusammenhang möchte ich auch betonen, dass es schön ist, dass Sie in Ihrem Buch zeitlich zurück gehen und auch die Anfänge der deutschen chemischen Industrie beschreiben.

NORMAN OHLER: Das war Hans Mommsens Idee.

RALPH KRÜGER: Das ist aber auch wichtig um zu verstehen, wie sich die Drogenindustrie in Deutschland entwickelte. Schließlich war ja Deutschland unter Anderem in den 1920er Jahren Exportweltmeister für Heroin und Kokain…

NORMAN OHLER: Dazu finden Sie auch Einiges in dem Buch von Werner Pieper.

RALPH KRÜGER: Für jemanden wie mich, der sich zuvor noch nicht mit diesem Thema beschäftigt hat, war es wirklich überraschend zu sehen, dass die meisten synthetischen Drogen, die wir auch heute noch kennen, in deutschen Laboren entwickelt wurden: Heroin, Kokain, Crystal Meth, Methadon…

NORMAN OHLER: Eigentlich alles.

RALPH KRÜGER: Kommen wir kurz noch einmal auf Pervitin zu sprechen. Mir fiel in diesem zusammenhang die Schokakola ein, jene Fliegerschokolade, die auch schon die Piloten der Wehrmacht wachhalten sollte. Schokakola war ja offiziell mit Koffein versetzt; aber war da auch Metamphetamin drin?

NORMAN OHLER: Schokakola gibt es ja auch heute noch. Da war kein Pervitin drin, sondern das war ein reines Koffein-Präparat.

RALPH KRÜGER: Ich habe mir im Supermarkt gestern mal die Inhaltsstoffe angesehen: Da ist nur noch ca. 2,x % Koffein zugesetzt. Aber den beliebten Hildebrand-Pralinen hatte man seinerzeit Metamphetamin beigemischt.

NORMAN OHLER: Und nicht zu knapp: In einer Praline waren 13 mg Metamphetamin! In einer Pervitin-Pille steckten nur 3 mg. Wenn man also eine Praline gegessen hat, war das, als wenn man vier Pervitin-Tabletten geschluckt hätte… Die wurden deshalb auch relativ schnell wieder vom Markt genommen. Da zeigt sich für einen kurzen Moment, wie blauäugig das produziert und genommen wurde. Denn da merkte man, das geht ja gar nicht. – Die Hausfrau isst eine Praline und ist dann auf jeden Fall für mindestens 14 Stunden hellwach.

RALPH KRÜGER: Das war dann noch wirkungsvoller als das Frauengold der 1950er Jahre…

NORMAN OHLER: Auf jeden Fall.

RALPH KRÜGER: Der längste Abschnitt Ihres Buches befasst sich natürlich mit Hitler und seiner engsten Beziehung zu seinem Leibarzt Theo Morell. Dieser Teil des Buches ist auch sehr bewegend geschrieben. Man hatte schon vorher das Bild von Hitler als einem Mann, dessen Körper und Psyche im Fortgang des Krieges immer weiter verfällt und der auf starke Medikamente angewiesen war, um weiter zu agieren. Doch nach der Lektüre Ihres Buches wird klar, wie eng die Beziehung zwischen Morell und Hitler wirklich war und dass es sich eher um ein typisches Abhängigkeitsverhältnis handelte, wie zwischen einem Dealer und seinem Kunden. Hitlers Drogenkonsum erklärt im Nachhinein viele seiner irrationalen Verhaltensweisen, ohne sie natürlich in irgendeiner Form zu entschuldigen. – Sie beschreiben diese körperliche Auflösung Hitlers und ihre direkte Verbindung zu den immer höheren Dosen der Hormoncocktails und der vielen anderen Drogen, die ihm Morell spritzte. Ab dem Ende 1941 verschlechterte sich Hitlers labiler Gesundheitszustand rapide und Morell verfiel aus Angst vor einem totalen Zusammenbruch seiners „Patienten A“ in Polypragmasie und verabreichte ihm einen wilden Mix aus prophylaktisch gedachten Hormonpräparaten, die er in einer eigenen Fabrik aus den tierischen Organen eines ukrainischen Schlachthofs herstellen und anliefern ließ. Hitler, der sich immer als Vegetarier bezeichnete und verstand, wurde ab dann also täglich mit zahlreichen tierischen Hormonen vollgepumpt, deren Wirkung und Nebenwirkungen kaum erforscht waren! – Aber das steht ja alles viel ausführlicher in Ihrem Buch. Mich würde vielmehr interessieren, wie Sie konkret an dieses Buchprojekt herangegangen sind? Sie hatten also ursprünglich die Idee, mit einem Freund ein Drehbuch zu schreiben, und haben dann gemerkt, dass es wohl eher ein Sachbuch werden müsste. Wie ging es dann weiter? Wie sind Sie auf die Quellen gestoßen?

NORMAN OHLER: Das war ein Dominoeffekt. Meine Hauptquellen waren zum einen der Nachlass von Theo Morell, der liegt im Bundesarchiv in Koblenz und im Institut für Zeitgeschichte in München, da ist schon einmal sehr viel Hitler-Morell-Geschichte zu finden. Leider ist dieser Nachlass mittlerweile nicht mehr so zugänglich, wie ich ihn verwenden konnte: Ich konnte den Nachlass noch im Original sehen, doch mittlerweile ist der abfotografiert. Man kann diese abfotografierten Sachen kaum entziffern. Ich hatte wirklich das Glück, dass ich diese Sachen noch selbst sehen konnte; wenn ich das Buch heute recherchieren würde, könnte ich damit nicht mehr richtig arbeiten. – Zum anderen war natürlich das Militärarchiv in Freiburg als Teil des Bundesarchivs eine zweite wichtige Quelle; da hat mich der Medizinhistoriker Dr. Peter Steinkamp auf die richtigen Akten aufmerksam gemacht, denn Steinkamp hatte schon über Pervitin in der Wehrmacht geforscht. Ich habe dann versucht, ihn im Laufe meiner Arbeit in der Expertise zu überholen, und das ist mir dann irgendwann auch gelungen. Irgendwann hat er dann gesagt: Jetzt wissen Sie tatsächlich mehr als ich über das Thema, und ich dachte immer, ich wäre der Experte… Das war natürlich auch schön, aber er hatte ja seinerzeit auch irgendwann aufgehört weiter zu forschen. Ich wollte nicht aufhören, aber auch ich weiß lange noch nicht alles. So hat mich zum Beispiel gerade neulich jemand nach einer Lesung gefragt, oib auch die KZ-Aufseher Pervitin genommen hätten. Dazu habe ich in meiner Recherche nichts gefunden, so weit bin auch ich nicht gekommen. Aber ich habe versucht, möglichst umfassend zu recherchieren, um mir ein möglichst lückenloses Gesamtbild machen zu können. Auf diese Weise entstand dann auch jener Dominoeffekt der Quellen. So war ich beispielsweise in der Gedenkstätte Sachsenhausen, wo ja diese „Pillenpatrouille“ stattgefunden hatte, weil ich zuvor gehört hatte, dass dort die SS Drogen eingesetzt hatte, um neue Verhörmethoden zu entwickeln.

RALPH KRÜGER: Mit Meskalin.

NORMAN OHLER: Genau. – Nach einiger Zeit hatte ich dann überlegt, wie ich das Buch strukturieren sollte. Dabei hat mir Hans Mommsen sehr geholfen, der meinte, ich müsste auf jeden Fall etwas über die Weimarer Republik schreiben, damit man versteht, wo das alles herkommt. Ich hätte das Buch ursprünglich 1933 begonnen, aber dann hätte etwas Wichtiges gefehlt. In den Gesprächen mit Mommsen haben wir die Bögen des Buches diskutiert, wobei ich mich letztlich gegen einen großen Rat entschieden habe: Er hatte gesagt: Fokussieren sie das Buch komplett auf Hitler-Morell! Er hatte gemeint, diese Beziehung sei noch nie so ausführlich beschrieben worden, und sie sei doch das Wichtigste überhaupt, während zum Beispiel Steinkamp meinte, dass Morell zu sehr Boulevard sei und in einem wissenschaftlichen Buch nichts zu suchen hätte. Am Ende haben beide ihre Meinungen revidiert, als sie das Gesamtergebnis gesehen haben. Denn irgendwann hatte ich die Idee, dass man einmal durch die gesamte Geschichte des Dritten Reiches quasi an der Hand genommen und hindurch geführt wird, und das empfinde ich auch als das Charmante an diesem Buch. Man weiß so viel über das Dritte Reich, aber viele Sachen weiß man auch wieder gar nicht. In meinem Buch wird man eben einmal von den 1920er Jahren über 33 bis 45 durch das ganze Dritte Reich hindurch geleitet.

RALPH KRÜGER: Was das Verhältnis von Morell und Hitler betrifft, zeichnen sie ja auch gleichzeitig ein Psychogramm des Führers, und auch hier lassen sich iele Neuigkeiten erfahren. So fand ich es zum Beispiel sehr spannend zu lesen, dass der Westfeldzug, jener Blitzkrieg, den Deutschland gegen Frankreich führte, Hitler gar nicht so recht war; denn die Geschwindigkeit seiner Wehrmacht, die unter massenhaftem Pervitin-Einfluss im Eiltempo auf Paris zumarschierte, schien ihm als Oberbefehlshaber der Wehrmacht das Heft aus der Hand zu nehmen. Deshalb kam es auch zu jenem seltsamen Halte-Befehl von Dünkirchen, der dann – zum Glück, muss man aus heutiger Sicht sagen – den deutschen Vormarsch im Westen abbremste.

NORMAN OHLER: Das stimmt. Der Halte-Befehl von Dünkirchen ist aus historischer Sicht wirklich schwer nachzuvollziehen. Es steht im Grunde schon 1:0, dann kriegt man noch einen Elfmeter; aus diesem Elfmeter schießt man dann ein Eigentor, und dann steht es wieder 1:1… Aber natürlich war es, historisch betrachtet, ein großes Glück, dass dieser Halte-Befehl ausgesprochen wurde! Sonst wäre ja Großbritannien in große Schwierigkeiten geraten, und villeicht hätte Churchill zurück treten müssen. – Überhaupt war es auch ein Glück, dass Hitler so starke Persönlichkeiten als Gegner hatte: Mit Churchill und Stalin waren da zwei, die genauso fanatisch waren wie er, zwar auf eine ganz andere Art, aber beide auch fanatisch. – Über Churchill gibt es jetzt übrigens auch eine neue Biographie von dem Londoner Bürgermeister [Boris Johnson: The Churchill Factor], die auch auf Churchills Drogenkonsum fokussiert ist. Churchills Drogenkonsum bestand ja aus Alkohol und Tabak, mit einer entsprechend anderen Wirkung, aber auch hochdosiert und jeden Tag. Das ist schon interesant, denn das sind genau diejenigen Drogen, die Hitler verachtet hatte. Hitler hatte auch immer wieder über Churchill, den Säufer und Raucher gelästert, und sich selbst als Abstinenzler und reinen Vegetarier zu stilisieren versucht. Dieses Bild demontiert mein Buch natürlich komplett. Das war mir auch eine große Freude, den Hitler in einem Buch so komplett zu dekonstruieren.

RALPH KRÜGER: Alkohol und Tabak, das sind ja die klassischen „Vergnügungsgifte“, die ab 1933 von den Nazis auch ganz offiziell bekämpft wurden. Leo Conti, der Reichsgesundheitsführer, war hier eine treibende Figur. Diese Antidrogen-Kampagne bekam auch schnell einen antisemitischen Klang… Während vor 33 Drogen relativ frei und unbekümmert konsumiert wurden, änderte sich das offizielle Bild nach Hitlers Machtergreifung radikal.

NORMAN OHLER: Drogenpolitik ist eben ganz oft auch eine Ausgrenzungspolitik von Minderheiten. Auch in Amerika haben wir das heute noch: Hier sind es eben die Schwarzen, die alle Drogen nehmen und nicht dazu gehören…

RALPH KRÜGER: Zum Stichwort Amerika möchte ich kurz noch einmal auf das Meskalin zurück kommen: Im KZ Dachau wurden ja an Häftlingen Experimente mit Meskalin angestellt, um sie bei Verhören gefügiger zu machen. Diese Forschungen wurden ja später in den USA – ähnlich wie das Raumfahrtprojekt unter Wernher von Braun – unter dem Namen „Project Chatter“ zum Teil im Koreakrieg genutzt. Auch dies ist ein nahezu unglaublicher Zusammenhang über den man bislang kaum etwas gelesen hat.

NORMAN OHLER: Mich wundert es allerdings auch, dass in den Rezensionen zu meinem Buch über diesen Zusammenhang noch kaum etwas geschrieben wurde. Doch wahrscheinlich ist der Hitler-Abschnitt für den deutschen Leser einfach zu dominant, als dass die anderen Erkenntnisse der Erwähnung wert wären. Ich finde es jedoch extrem, was damals in Dachau passiert ist – und was danach in den USA passiert ist. Da würde ich auch meine Recherchen noch nicht als abgeschlossen betrachten. Da kann man, glaube ich, noch vieles entdecken. In den National Archives in Washington habe ich sehr viele Dokumente über die amerikanische Drogenpolitik im besetzten, d.h. im befreiten Berlin einsehen können. Direkt im Sommer 1945 haben die Amerikaner dort eine neue Antidrogen-Politik etabliert; das ist sehr interesant, und da öffnet sich dann quasi das nächste Buch… Ich weiß noch nicht, ob ich es schreiben werde, aber da gibt es in der Tat viel Interessantes zu entdecken.

RALPH KRÜGER: Wie Sie das Ende des Dritten Reiches beschreiben, verknüpft sich der Untergang des Landes mit dem persönlichen Untergang Hitlers und mit dem finalen Zusammenbruch, als die Lieferungen des Eukodals, das seine chronischen Schmerzen betäubte, kriegsbedingt immer öfter ausbleiben. Morell als Hitlers Dealer begeht einen Kardinalfehler, indem er den geliebten Stoff nicht mehr nachliefern kann. „Patient A“ kommt in den kalten Entzug und nimmt sich schließlich das Leben. Diese Passagen Ihres Buches beschreiben unglaublich dicht die ausweglose Lage im Führerbunker.

NORMAN OHLER: Das verdanke ich auch ein bisschen dem Morell selber. Der hat das in seinen Tagebuchnotizen sehr plastisch beschrieben. Er schreibt da beispielsweise ganz akribisch auf: „Mein Helfer fahren durch ganz Berluin. Erst in der sechsten Apotheke konnte Führer-Rezept eingelöst werden.“ Der hat viel geschrieben, der Mann.

RALPH KRÜGER: Sie erklären diese Akribie Morells ja auch als eine Art Schutzfunktion: Morell wollte sich im Falle einer Vernehmung durch die SS absichern, indem er stets belegen konnte, welche Spritzen er seinem Patienten verabreicht hatte.

NORMAN OHLER: Das musste er natürlich tun. Denn er hatte so oft Spritzen gegeben, das hatte jeder gesehen; da wäre er in Teufels Küche gekommen, wenn Hitler irgend etwas passiert wäre…

RALPH KRÜGER: Es muss ja auch wirklich ein geradezu blindes Vertrauen gewesen sein, das Hitler zu seinem Leibarzt hatte. – Hitler, der Vegetarier, der sich, zumindest ab Ende 1941, täglich einen wüsten Cocktail an Hormonpräparaten spritzen ließ, die aus tierischen Kadavern gewonnen wurden… Haben Sie bei Ihren Recherchen in Erfahrung bringen können, ob dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Arzt und Patienten in irgendeiner Weise kommuniziert wurde?

NORMAN OHLER: Ich fand es auch komisch, dass Hitler immer betonte, er sei Vegetarier, und es gar nicht war. Hitler hat eben enorm viel verdrängt. Auch das hat er verdrängt. Ich glaube auch nicht, dass er gedacht hat: Ich nehme jetzt Drogen, damit es mir gut geht. – Das waren für ihn Medikamente, die ihm sein Leibarzt gegeben hat, das ist alles in Ordnung.

RALPH KRÜGER: Kommen wir zum Schluss noch kurz zu dem letzten Abschnitt Ihres Buches, in dem Sie den Drogen-Cocktail mit der geheimnisvollen Bezeichnung „D IX“ beschreiben. Ein hartes Gemisch aus Kokain, Eukodal, Pervitin und Dicodid, einem halbsynthetischen Morphin-Derivat. Dieses Zeug wurde versuchsweise den Insassen der Kleinst-U-Boote namens Seehund gegeben, die dann als letzte Wunderwaffe der Marine unter engsten Bedingungen oft tagelang unter Wasser verbringen sollten, bis sie vor einem feindlichen Kriegsschiff ihre Kamikaze-Aktionen starten konnten. Die Wirkung der Testdroge war jedoch in den meisten Fällen derart stark, dass es zu halluzinogenen Störungen kam, die die U-Boot-Fahrer orientierungslos machten, so dass sie im weiten Atlantik umherirrten, bis sich ihre Spuren verloren. – Davon hatte ich, ehrlich gesagt, noch nie etwas gehört.

NORMAN OHLER: Das wusste interessanter Weise auch Mommsen nicht. Das hatte mich gewundert, aber auch NS-Experten wissen eben nicht alles über das Dritte Reich.

RALPH KRÜGER: Umso schöner ist es, dass Sie auf die Idee kamen, die Geschichte des Dritten Reiches einmal von dieser ganz anderen Seite her zu beleuchten und die bislang unterschätzte Bedeutung des Drogenkonsums heraus zu arbeiten. Und das alles, obwohl Sie ja von Hause aus eigentlich gar kein Sachbuch-Autor sind, wie wir am Anfang festgestellt haben!

NORMAN OHLER: Aber jetzt bin ich einer: ein renommierter Sachbuch-Autor. Das ist auch schön, aber mein nächstes Buch wird wieder ein Roman sein. Doch mein übernächstes Buch wird wieder ein Sachbuch sein, das ist auch schon sicher.

RALPH KRÜGER: Dann freue ich mich schon jetzt auf Ihre nächsten Ergebnisse und wünsche Ihnen alles Gute! Ich bedanke mich für dieses Gespräch!

NORMAN OHLER: Ich danke Ihnen!