In seinem Essay bricht Marc Augé eine Lanze für die multikulturelle Gesellschaft. Angesichts der Migrationsbewegungen, die weltweit in Gang gekommen sind, wird das agesicht der westlichen Gesellschaften (und nicht nur deren Gesicht) sich radikal wandeln. Natürlich schreibt Augé vorzüglich aus einer französischen Perspektive, doch seine Erkenntnisse lassen sich problemlos auch auf die deutsche Situation anwenden, wir wir sie spätestens seit diesem Jahr vorfinden. Der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und aus den nordafrikanischen Staaten stellt nicht nur den Staat vor große Herausforderungen, sondern erfordert von allen ein Umdenken. Was viele aus Unwissenheit, sei es aufgrund von Fehlinformationen oder sei es aufgrund von Nichtwissenwollen, oder aus Desinteresse als eine Gefahr für den deutschen Volkskörper ansehen und mit den Neuankömmlingen aus dem Morgenland den endgültigen Untergang des Abendlandes heraufziehen sehen, ist für Marc Augé in erster Linie eine Chance zur Neuorientierung.
Nicht ganz ohne Anspielungen auf die biologistischen und kulturrassistischen Ideologien der Ultrakonservativen spricht auch Augé von einer diffusen Gefahr, in der sich unsere Kultur befindet. Es handelt sich jedoch eher um die Gefahr eines starren Konservatismus und des Festhaltens an einem unflexiblen Leitkultur-Gedanken. Diese Gefahr ist einfach zu verstehen: Wer in Zeiten universeller Flexibilitätsforderungen auf starren Systemen beharrt, wird schnell den dürren Ast, auf dem er sitzen bleiben will, zum Brechen bringen. Ja, wir leben in stürmischen Zeiten, und da ist es von Vorteil, sich gegenüber Veränderungen zu öffnen, was nicht gleichbedeutend damit ist, sein Fähnchen in den stürmischen Wind zu hängen und es mal hierhin, mal dorthin nach dem Wind zu drehen.
Lange Zeit lebten wir mit der Vorstellung, in einer Gemeinschaft zu leben. Aber was heißt das eigentlich? Was sind die Gemeinsamkeiten einer Internet-Community, der Mitglieder einer politischen Partei, einer Religionsgemeinschaft und eines Lesekreises? Augé spricht in diesem Zusammenhang von einer Illusion. Was uns innerhalb dieser sozialen Tabestände vereint, ist der gemeinsame Zweck, die Absicht. Damit verbunden ist jedoch nicht automatisch auch der Solidaritätsgedanke, wie ihn Émile Durkheim für die Gemeinschaft forderte. Nur auf der Basis einer solidarischen Haltung gegenüber den anderen Mitgliedern meiner Gemeinschaft kann diese als Ganzes Bestand haben. Doch sind wir wirklich noch solidarisch? Oder hat nicht nur noch jeder seinen eigenen Vorteil im Sinn? Und wenn ja, wie konnte es so weit kommen?
All diese Fragen werden in Augés kurzem Essay nicht beantwortet, stellen sich aber implizit dem aufmerksamen Leser. In unserer Zeit sind die Fronten härter und der gesellschaftliche Umgangston rauher geworden. Mit anderen Worten: Die ruhigen, die guten Zeiten scheinen vorbei zu sein. Bezogen auf die Flüchtlingsproblematik, bedeutet dies aber auch, dass ein schnelleres Umdenken, Nachdenken, Neudenken nur Vorteile bringen kann. Wir werden die Situation nicht ändern können, indem wir wehsehen odrr darauf hoffen, dass alles wieder so werden wird, wie es zuvor war. Dies wird nicht geschehen, und jeder Tag, an dem mehete Tausend Flüchtlinge den Weg über Griechenland, Ungarn und Serbien nach Deutschland kommen, beweist uns ganz konkret, wie stark die „normative Kraft des Faktischen“, von dem einst Jürgen Habermas sprach.
Nicht nur Deutschland, auch Frankreich hat ein Geburtendefizit. Der Fachkräftemangel in Deutschland wird seit vielen Jahren gebetsmühlenartig bejammert. Offensichtlich ist er mit inländischen Kräften alleine nicht mehr zu beheben, was die Immigration gut ausgebildeter (oder auszubildender) Menschen nahelegt. Nun kommen sie zu Tausenden, viele von ihnen mit einem Bildungsniveau, von dem viele Einheimische nur träumen können, und genau hier sind die Bedenkenträger und Ausländerfeinde zu finden: in den bildungsfernen Schichten unserer Gesellschaft. Deren Ängste sind nicht nur nachvollziehbar, sondern auch begründet: Wer nichts gelernt hat und nichts kann, wird immer in denjenigen, die mehr können, wissen und machen als er selbst, eine potenzielle und reale Gefahr sehen. Die nehmen wir weg, was ich nicht habe! – Sollen sie!
An diesen Schwachstellen unserer Gesellschaft offenbart sich der sozialdarwinistische Charakter des Kapitalismus. Es sind jene weitgehend vernachlässigten und unbeachteten Sollbruchstellen in den untern Bereichen der sozialen Skala, wo einer, der nichts kann, vom Staat durchgefüttert wird, was auch völlig in Ordnung ist. Was jedoch nicht in Ordnung ist, ist dieser blinde Hass, der sich angesichts des Andersdenkenden, Andersaussehenden, Anderssprechenden breit macht.
Wichtig ist hierbei jedoch, jene Leerstellen der Produktivität, jene Außenstehenden nicht mit dem Mob zu identifizieren, der in den Nachrichten Publicity bekommt: Pegida vielleicht, aber keine Brandstifter. Der Mob, das Pack, von dem dieser Tage vielfach die Rede ist, das sind nicht diese Armseligen, die in Hartz-IV-Gefangenschaft gehalten werden. Denn jene gehen nicht auf die Straße, zünden keine Häuser an und werden auch keine Steine. Jenes Pack, das sind vor allem Menschen mit einem zerebralen Migrationshintergrund, die ihr Hirn irgendwo auf dem Weg in die Gewalt verloren haben. Wer Häuser anzündet, Menschen angreift und sich im Rudel über Wehrlose hermacht, ist auf dem Entwicklungsstand eines Hooligans stehen geblieben. Für jene armseligen Kreaturen eines „kranken Volkskörpers“, für dessen Gesundung und Reinhaltung sie glauben, kämpfen zu müssen, bliebe eigentlich nur noch die Fremdenlegion, wenn diese nicht ausgerechnet eine französische Institution wäre.
Doch zurück zu Marc Augé und seinem lesenswerten Essay. Auch wenn Augé Luhmann nicht namentlich erwähnt, lässt sich seine Theorie einer zukünftigen Gemeinschaft durchaus auch systemtheoretisch lesen. Ein System, das sich radikal gegenüber von außen einwirkenden Kräften abschließt, um sich dadurch zu stabiliseren, läuft immer Gefahr, sich durch diese Abgrenzungspolitik in Wirklichkeit zu schwächen; die hierdurch gefährdete Stabilität kann nur mithilfe einer restriktiven Innenpolitik gestützt werden. Solche Tendenzen erleben wir auf politischer Ebene in Ungarn (Bau eines Grenzzaunes) und auch in Deutschland (forcierte Abschiebung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ aus dem Westbalkan). Beide Maßnahmen sind kurzsichtig und werden auch auf lange Sicht weder Bestand haben, noch von Vorteil für die betroffenen Gesellschaften sein.
Was für Länderpolitik gilt, lässt sich mühelos auch auf den kulturellen Bereich übertragen, ja, es wird in diesem sogar noch offensichtlicher. Kultur ist kein in Stein gemeißeltes Gebilde, sondern immer ein auf Austausch und Erneuerung basierendes, flexibles Gewebe komplexer Relationen. Ein solches Gewebe macht weder an Nationalgrenzen halt, noch lässt es sich durch kulturelle Unterschiede abschrecken. Im Gegenteil sind es gerade jene interkulturellen Verknüpfungen, die bereichernd sein können. In vulgo: Wer im eigenen Saft kocht, schmeckt schnell langweilig. Flüchtlinge aus aller Welt, die hier zu Mitbewohnern, Mitmenschen, Nachbarn werden, können unserer Gesellschaft, unserer Kultur und unserer Wirtschaft – und letztlich auch unserem Gen-Pool nur Nutzen bringen. Marc Augés Essay ist ein aufrüttelndes Plädoyer für eine solche kulturelle und politische Öffnung unserer Gesellschaft zu einer neuen Form von Gemeinschaft, die den Einzelnen in seiner Eknzigartigkeit akzeptiert und respektiert.
Dieser Respekt darf jeddoch nicht missverstanden ween, indem man alle Grenzen niederreißt. Wer alle Grenzen beseitigt, schafft auch alle Unterschiede ab, vor allem aber weigert er sich, die Grenzen des Anderen anzuerkennen. Aber Grenzen sind wichtig, und die Anerkennung der Grenzen des Anderen ist die Grundvoraussetzung für ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben aller Mitglieder einer Gesellschaft. Erst wenn ich den Anderen in seiner Andersartigkeit anschaue und versuche, ihn zu verstehen, erst dann praktiziere ich wirklich eine Öffnung meines Geistes in Augés Sinne. Dieses Aushalten der Andersartigkeit weitet den Blick und schafft die Bedingungen der Möglichkeit von Interkulturalität. Allein auf diese Weise kann die Illusion des konservativen Gemeinschaftsgefühls zerstört und der Weg bereitet werden für eine neue Form der Gemeinschaft, die auf bedingungslose gegenseitige Akzeptanz und auf Respekt basiert. Eine solche Öffnung ist nicht für jeden enfach, für viele wird sie eine Zumutung sein. Es gehört Mut dazu, aber der Lohn wird eine neue Gesellschaft sein, die sich wirklich als eine globale verstehen und auch so nennen darf.
Autor: Marc Augé
Titel: Die illusorische Gemeinschaft
Broschiert: 37 Seiten
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
ISBN-10: 3957570212
ISBN-13: 978-3957570215