Es hat eine Weile gedauert, bis sich die Soziologie mit dem Raumbegriff befasste. Lange war der Raum einfach ein abstrakter Begriff, ein Behälter, in dem sich soziale Prozesse abspielten, der jedoch keinerlei Einfluss auf diese Vorgänge hatte und auch selbst nicht von ihnen verändert wurde.
Dies ist umso seltsamer, weil sich die Kulturwissenschaften seit dem spatial turn der 1980er Jahre intensiv mit der Raum-Kategorie beschäftigten und diesen Paradigmenwechsel für die Forschung fruchtbar machten.
Wer sich für raumtheoretische und raumsoziologische Fachliteratur interessiert, für den sind die Publikationen der stw-Reihe im Suhrkamp-Verlag die erste Anlaufstelle. Vor einigen Jahren (2006) haben Stephan Günzel und Jörg Dünne eine maßgebliche Sammlung von Grundlagentexten zur Raumtheorie herausgegeben; andere Standardwerke wie die zur Raumsoziologie von Martina Löw findet man auch bei Suhrkamp.
Zeitgleich mit der Textsammlung von Dünne und Günzel erschien auch der wichtige Band „Räume, Orte, Grenzen“ von Markus Schroer, der endlich ein wenig Ordnung in die Terminologie bringt und mit seinem historischen Abriss den Weg zu einer Soziologie des Raumes beschreibt. Am aktuellen Ende dieser Entwicklung steht nun die Monographie von Gunter Weidenhaus zur sozialen Raumzeit.
Weidenhaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Berlin. In seinem Text versucht er die immer noch getrennt voneinander behandelten Kategorien des Raumes und der Zeit für die Soziologie zu verbinden. Seit Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, dass Raum und Zeit sich gegenseitig beeinflussen, und seitdem ist die jahrhundertelange Trennung dieser beiden Kategorien mit der Einführung der neuen Kategorie der Raumzeit überwunden worden. Wenn nun Weidenhaus von einer sozialen Raumzeit spricht, wird instinktiv klar, was gemeint ist.
In seiner Monographie befasst sich der Autor jedoch nicht nur mit der Bestimmung des theoretischen Ortes einer sozialen Raumzeit, sondern untersucht auch ihre empirische Raumzeitlichkeit. Jene Historizität der sozialen Räume ist besonders im Zusammenhang mit Biographien interessant. Um jene Phänomene besser untersuchen zu können, trennt Weidenhaus zunächst die beiden Dimensionen von Zeit und Raum:
So beschäftigt er sich zunächst mit der Lebensgeschichtlichkeit (Zeit-Kategorie) und differenziert hier zwischen einem linearen, einem zyklischen und einem episodischen Typus. Danach interessieren ihn im biographischen Zusammenhang der Raumkategorie der Netzwerk-Typus, der konzentrische Typus sowie der Insel-Typus.
Beide Kategorien in Deckung gebracht, ergeben dann jene soziale Raumzeit in Biographien, die Weidenhaus als einen neuen Zugang zu einer Beschreibung und Analyse Lebenswirklichkeiten versteht. Diese neue Perspektive erlaubt die Erfahrung neuer Erkenntnisse, so dass Weidenhaus hier eine Tür aufgestoßen zu haben scheint, die bislang übersehen wurde. – Ein spannendes Buch über die Dynamik unserer Möglichkeitsräume und über ihre Folgen für die Beschreibung und Analyse verschiedener Lebenswirklichkeiten.
Autor: Gunter Weidenhaus
Titel: Soziale Raumzeit
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518297384
ISBN-13: 978-3518297384