Peter Schneider: „An der Schönheit kann´s nicht liegen… Berlin – Porträt einer ewig unfertigen Stadt“

Peter Schneider: "An der Schönheit kann´s nicht liegen..."Nein, Berlin ist wahrlich keine Schönheit! Das Aschenputtel unter den europäischen Hauptstädten kann weder auf eine lange glorreiche Geschichte zurückblicken, noch mit der reichen und erhabenen Architektur vergangener Jahrhunderte punkten; Berlins Skyline ist im Vergleich zu Chicago oder Frankfurt ein Witz, der Funkturm ist eine kleine Kopie des Pariser Eiffelturms, Berlin hat keine Küstenlinie, kein Bankenviertel, keine Prachtboulevards. In Berlin ist alles eine Nummer zu klein, zu piefig. Die berühmte „Berliner Schnauze“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst hinter einer schicken Fassade keine echte Substanz steckt; und um diesen offensichtlichen Makel zu kaschieren, hält sich der Berliner an das, was er am besten kann: sich in die eigene Tasche lügen.

Umso eifriger wird in Berlin seit jeher das Prädikat „Weltstadt“ im Munde geführt, in einem Munde, der oft zu laut und vorlaut seine Meinung herausposaunt, obwohl ihn niemand nach seiner Meinung gefragt hat. – Schön, reich, edel, kulturelle Avantgarde, technologischer Entwicklungsstandort: all dies ist Berlin nicht. „An der Schönheit kann´s nicht liegen“, konstatiert Peter Schneider darüber hinaus in seinem gleichnamigen Buch. Aber was ist es dann, was Berlin in den Augen von vielen Millionen Besuchern pro Jahr so anziehend macht?

Warum ist Berlin sexy? Zum einen ist es natürlich die Tatsache, dass in Berlin alles billig ist. In keiner anderen europäischen Hauptstadt kann man sich für zehn bis zwanzig Euro satt essen und/oder besaufen; Berlin kennt keine Polizeistunde, und auch morgens um vier ist jeder Club bequem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Doch das allein reicht nicht aus, meint Peter Schneider. Berlins Attraktivität liegt auch und in erster Linie in seiner Vergangenheit, im Faszinierenden, Weltgeschichtlichen und im Monströsen:

Berlin als die „Weltmetropole der Zwanziger Jahre“, als „Hauptstadt des Dritten Reiches“, als „Mauerstadt“ des Kalten Krieges. „Kaum eine andere Stadt hat in den letzten hundert Jahren so extreme Wandlungen erlebt.“ schreibt Schneider in seinem Einführungskapitel. All dies macht Berlins Anziehungskraft für Millionen von Berlin-Touristen aus, die jedes Jahr die Stadt besuchen.

Aber vielleicht liegt es ja auch an jener Unfertigkeit und Imperfektion, die so charakteristisch für die Berliner Verhältnisse sind? Wenn es darum geht, in Projekten stecken zu bleiben, sind die Berliner Weltklasse. Man denke nur an den BER, jenes Berliner Flughafenprojekt, das niemals fertig zu werden scheint und jede Menge Freiraum für Skandale, Bestechungsaffären und finanzielle Katastrophen lässt. Andere Beispiele sind das Stadtschloss, die Staatsoper oder auch Neubau-Projekte wie die Mall of Berlin, die – wie der neue Flughafenbau in Brandenburg – große Probleme mit dem Brandschutz hat.

Alle Projekte werden in Berlin zu Problemfällen. Anders als in anderen Großstädten und Regionen scheint es in Berlin besondere Standortbedingungen zu geben, die die Kosten explodieren und die Fertigstellungstermine regelmäßig in weite Ferne rücken lassen. Die Vermutung, dass hier Korruptionsmechanismen am Werke sind, liegt nahe, trifft aber für Berlin nur in begrenztem Umfang zu. Eine besondere Berliner Spezialität scheint hingegen die konsequente Besetzung von Planungs- und Entscheidungsposten mit ausrangierten B-Klasse-Managern zu sein. Was vielleicht als mildtätige Geste für gescheiterte Manager-Existenzen verstanden werden könnte, rächt sich regelmäßig bei vielen Großprojekten in Form von Umsetzungsschwierigkeiten bei Planungsvorhaben und Mängeln am Bau, die dann im laufenden Betrieb zu herunter fallenden Glasflächen der Außenfassade (Galerie Lafayette), zu kurz geratenen Überdachungen (Hauptbahnhof) oder ungenügenden Brandschutzmaßnahmen (Flughafen, Shopping Mall) führen.

Genug des Lamentos! Berlin muss auch seine guten Seiten haben, und in der Tat findet man sie an jeder Ecke, wenn man sich erst einmal auf diese chaotische Stadt mit ihren zugereisten Bewohnern einlässt. Zusammengewürfelt ist die Berliner Bewohnerschaft, und der Ur-Berliner ist eindeutig in der Minderheit. Im späten 19. Jahrhundert begann die Industrialisierung auch im märkischen Sand Fuß zu fassen, und so reiste der Neu-Berliner vor allem aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen – kurz: aus dem armen Osten – in die Boomtown Berlin.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs Berlin so schnell wie keine andere europäische Großstadt. Seit der Reichsgründung 1870 war Berlin zu einer international mit Bewunderung und Argwohn betrachteten Metropole aufgestiegen. Zwischen 1870 und 1890 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, und allein zwischen 1900 und 1910 stieg die Bevölkerungs-zahl um eine Million von 2,7 auf 3,7 Mio. Einwohner. Zu jener Zeit genoss Berlin international den Ruf als „Hauptstadt der Moderne“. Anders als Paris oder London, die seit Jahrhunderten die unbestrittenen Metropolen ihres Landes waren, wurde der „Parvenü“ und Newcomer Berlin zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für einige Zeit zur modernsten und „amerikanischsten“ Stadt Europas.

Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Auch wenn heute die Bevölkerungszahl um 50.000 Neu-Berliner pro Jahr wächst, was eigentlich eine Sensation darstellt, lebt Berlin auch heute noch von seinem Nimbus als Zentrum der Goldenen Zwanziger Jahre, als der Potsdamer Platz noch ein urbanes Zentrum und die Friedrichstraße eine Amüsier- und Flaniermeile mit internationalem Flair waren. Heute ist der Potsdamer Platz eine gesichtslose und uninspirierte Agglomeration von Bürotürmen, die für Chicago zu klein, für Paris zu hässlich und für Krefeld zu urban sind. Diese Kästen könnten genauso gut auch in Mailand oder Kopenhagen stehen, und es wäre schöner am Potsdamer Platz, wenn sie es täten. Mit anderen Worten: Der Potsdamer Platz hat kein Gesicht. Das alte ist ihm vor 80 Jahren weggesprengt worden und hat eine Leerstelle in der Erinnerung hinterlassen, die man selbst mit internationalen Wettbewerben nicht mehr füllen konnte.

Schon wieder Lamento! – Das Lamentieren gehört zu Berlin (und vor allem zu den Berlinern!) wie ehemals die Hundescheiße auf dem Trottoir. Der Berliner liebt seinen Hund, aber wenn der sich löste, sah er früher meistens weg, und die Losung blieb liegen. Doch hat sich hier in den vergangenen Jahren eine Menge getan, findet auch Peter Schneider. Die Hunde-halter sind umweltbewusst geworden, sammeln die Hinterlassenschaften ihrer vierbeinigen Freunde in dunklen Plastikbeuteln, die dann in den umliegenden Papierkörben (oder daneben) landen und nicht mehr an den Sohlen der Fußgänger.

So geht Fortschritt! Man sollte diese Evolution im Kleinen nicht belächeln, denn dahinter steckt etwas Großes, Weltstädtisches, wie es der Berliner versteht. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Stadt im Rhythmus des 21. Jahrhunderts bewegt! Der Berliner entsorgt die Häufchen seines Hundes, der Berliner ist umweltbewusst und auf Nachhaltigkeit bedacht. Sein ökologischer Fußabdruck verirrt sich nicht mehr in etwas Warmes, Braunes. Der Berliner ist sauber und sauber ist die Stadt. So lobend äußern sich jedenfalls die Touristen aus aller Welt, die diese Stadt besuchen.

Als Party-Hauptstadt mit den angesagten Locations (heute immer noch das Berghain, früher Tresor und Kater Holzig) genießt Berlin tatsächlich Weltruhm. Junge Menschen aus aller Welt können in Berlin Urlaub machen, weil es kaum eine andere europäische Stadt gibt, die so preiswert ist wie Berlin. Arm, aber sexy – der Slogan gilt bis heute. Wegen seiner fehlenden Sperrstunde ist das Berliner Nachtleben legendär. Und was Berlins Ruhm als europäische Sex-Hauptstadt betrifft, in der es Clubs und Angebote für jede nur denkbare sexuelle Orientierung gibt, so findet man hier in der Tat heute noch einen schwachen Abglanz jener Verruchtheit der 1920er Jahre, als der Berlin-Besucher die Stadt vor allem wegen seiner Freizügigkeiten ihres Nachtlebens schätzte.

Peter Schneider, Jahrgang 1940, kam 1962 als junger Student aus Freiburg nach Berlin und ist seitdem der Stadt treu geblieben. Berlin wurde seine Wahlheimat. Er schrieb 1965 Reden für den Wahlkampf der SPD und wurde einer der Wortführer der Studentenbewegung von 1967/68. Er hat die Stadt und ihre Bewohner über 50 Jahre lang studieren können. Die Aufbruchsstimmung der 68er und frühen 1970er Jahre, die Stagnation der 80er und die Neuorientierung nach der Wiedervereinigung: all dies hat er hier miterlebt und die Veränderungen in der Stadt begleitet.

„Das Berliner Prinzip der Simulation – der Täuschung, des Trompe-l´oeil – erwies sich [immer wieder] als stärker und wirklichkeitsnäher als alle museal aufbereitete ‚realen‘ Orte“, schreibt Peter Schneider im Zusammenhang mit dem Mauer-Panoramabild des Berliner Künstlers Yadegar Asisi. Das Berliner Prinzip der Simulation lässt sich auch auf die oben ge-nannten Großprojekte anwenden: Der geplante Großflughafen wird niemals so schön werden wie seine computergestützte Simulation. Ebenso das Humboldt-Forum mit seiner Schloss-Fassade. Ebenso der Potsdamer Platz mit seiner simulierten Urbanität.

Was Berlin zur Metropole fehlt, ist echte Urbanität, die metropolitische Weltoffenheit seiner Bürger. Der zugereiste Haufen findet seine Identität (noch) nicht im Berlinerischen. Egal ob der Neu-Berliner aus Afghanistan, Syrien, Spanien, Großbritannien, Amerika, Vietnam, Russland, Portugal oder Kirgisien kommt: Er ist kein Berliner, denn er wüsste auch gar nicht, was das sein sollte. Er hat sich Berlin als seinen neuen Lebensmittelpunkt erkoren, weil er hier seinen Interessen nachgehen kann oder einfach in Ruhe gelassen wird. Dieses Klima der To-leranz macht vielleicht sogar den wichtigsten Standortvorteil und die Attraktivität Berlins aus. Dem Berliner ist es im Grunde egal, wer sein Nachbar ist und woher er kommt, solange er ihn in Ruhe lässt.

Der Untertitel von Peter Schneiders Buch lautet: „Berlin – Portrait einer ewig unfertigen Stadt“. Es ist ein ambivalenter Blick auf diese Stadt, der nur schwer die Balance zwischen Liebeserklärung und Zorn halten kann. Oft sind beide Gefühle gleichzeitig vorhanden. Die Idee zu diesem Buch stammt von Schneiders amerikanischen Verlegern bei Farrar, Straus & Giroux, sagt er in seinem Interview mit kulturbuchtipps. Man wolle ein Buch über das neue Berlin, das Berlin nach der Wiedervereinigung von ihm haben. [Das ganze Interview mit Peter Schneider können Sie hier nachlesen.]

Peter Schneider entfaltet in seinem Buch ein vielschichtiges Panorama der Stadt. Das jüdische Leben wird ebenso porträtiert wie die Neuköllner Parallelgesellschaft, die türkische Community ebenso wie die Schwaben am Prenzlauer Berg. Wolfgang Thierse und Heinz Buschkowsky seien hier stellvertretend als die Antipoden der zahlreichen Gesprächspartner Schneiders genannt. Schneider beobachtet in den letzten Jahren, dass neben Spaniern, Italienern und anderen Europäern vor allem junge Israelis nach Berlin kommen, um hier eine neue Heimat zu fin-den. Für Schneider grenzt dies, angesichts des Holocausts und der fatalen deutschen Geschichte, an ein Wunder. Vielleicht, so meint er, sind es gerade jene jungen Israelis, die, un-voreingenommen und von der Vergangenheit unbelastet, in Berlin ihre Chance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich eine Existenz aufzubauen, die der Stadt mit der Zeit das wieder zurückgeben, was durch die Nazi-Herrschaft verloren gegangen war: das jüdische Leben.

„An der Schönheit kann´s nicht liegen“ ist kein Berlin-Verführer, sondern ein gut recherchiertes Buch über das neue Berlin. Es entwirft einen multiperspektivischen Blick auf diese faszinierende Stadt, die niemals fertig wird und immer mit Provisorien lebt. Schneiders Buch ist leicht zu lesen, von der ersten bis zur letzten Seite spannend und vermittelt sowohl Berlinern als auch Berlin-Fans einen aktuellen Blick auf die lebendigste Stadt Europas. Für Berliner ist dieses Buch Pflichtlektüre; für alle anderen eine echte Leseempfehlung!

Lesen Sie auch das kulturbuchtipps-Interview mit Peter Schneider am 02.04.15 in der Berliner Kneipe „Zwiebelfisch“!

Autor: Peter Schneider
Titel: „An der Schönheit kann´s nicht liegen… Berlin – Porträt einer ewig unfertigen Stadt“
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3462047442
ISBN-13: 978-3462047448