RALPH KRÜGER: Herr Schneider, wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?
PETER SCHNEIDER: Das war die Idee meiner amerikanischen Freunde und Verleger. Dadurch ist auch die erste Fassung dieses Buches im August 2013 in Amerika erschienen. Das ist allerdings eine viel frühere Fassung als die, die Ihnen jetzt vorliegt, weil die Amerikaner sehr langsam und gründlich produzieren. Ich musste das Buch, das im August 2013 erschienen ist, schon im August 2012 fertig abgeben. Dadurch sind wir im Vergleich mit dieser Fassung jetzt bereits anderthalb Jahre weiter mit den ganzen Updates und Aktualisierungen.
RALPH KRÜGER: Woran liegt diese vergleichsweise lange Produktionszeit?
PETER SCHNEIDER: Die Amerikaner sind unglaublich sorgfältig. Sie haben jedes Faktum drei Mal durchgecheckt und sogar unter Anderem herausgefunden, dass es hier beim TAGESSPIEGEL gleich zwei Redakteure gleichen Namens gibt, die beide über Nofretete geschrieben haben. Solch eine Gründlichkeit erregt meine Bewunderung. Dann kam natürlich auch noch die Zeit für die Übersetzung hinzu. Und letztlich nehmen sich die Amerikaner auch schon vorher relativ viel Zeit, bevor sie solch ein Buch auf den Markt werfen. Aber um auf Ihre Frage zurück zu kommen, wie ich auf diese Idee kam oder warum mich diese Idee überzeugt hat: Ich saß mal wieder bei Farrar, Straus and Giroux, einem alteingesessenen amerikanischen Verlag, in dem auch sehr viele europäische Autoren publiziert werden, und erzählte ihnen, was ich zurzeitalles mache und was sie alles noch nicht übersetzt haben, und erregte so dieses eher laue Interesse, was sich ja auf amerikanisch immer äußert mit „Oh, very interesting, Peter!“…
RALPH KRÜGER: … was eigentlich ja nur eine hübsche Umschreibung von „Dankeschön, kein Interesse“ ist…
PETER SCHNEIDER: Und so habe ich an einer Stelle gefragt: Was wollt Ihr eigentlich von dem Autor Peter Schneider lesen? Da kam sofort die Antwort wie aus einem Munde: ein neues Buch über Berlin! – Warum das? Dafür gibt es einen guten Grund: Mein Buch „Mauerspringer“ war ja in Amerika viel erfolgreicher als hier und hat mir auch sehr viele Türen geöffnet. Meine Verleger wollten jetzt einfach die Fortsetzung; der „Mauerspringer“ ist ja 1983 erschienen auf Deutsch, und seitdem waren 30 Jahre vergangen. Zunächst wollte ich nicht recht, denn ich hatte ja in den vergangenen Jahren ständig und immer wieder über Berlin geschrieben, und auch meine Romane handeln ja fast alle in Berlin. Aber dann dachte ich mir, eigentlich haben die beiden gar nicht so Unrecht; denn dieses neue Berlin, was wir jetzt haben, das vereinigte Berlin, das kenne ich ja bestenfalls nur halb, nämlich nur die West-Berliner Seite, und die andere Seite habe ich noch gar nicht erforscht! Also habe ich eine Weile darüber nachgedacht; dann war auch ein sehr ordentlicher Vorschuss im Spiel, und so habe ich mich dafür entscheiden, dieses Buch zu machen. Meine Prämisse war: Das kann nur was werden, wenn ich so tue, als wüsste ich gar nichts über Berlin und müsste alles erst neu recherchieren. Und genau das habe ich auch gemacht, das werden Sie beim Lesen gemerkt haben, das sind alles ganz frische Kapitel, und da ist nichts bei mir selber abgekupfert worden oder so.
RALPH KRÜGER: Bleiben wir kurz noch einmal bei der amerikanischen Ausgabe: Gibt es große Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Ausgabe?
PETER SCHNEIDER: Es gibt natürlich Unterschiede. So habe ich viele Informationen, die ich dem amerikanischen Publikum glaubte, schuldig
zu sein, weggelassen, weil ich dachte, dass ich diese dem deutschen Leser nicht vorzusetzen brauche. Ich habe aber auch ganze Kapitel weggelassen, wie zum Beispiel das Kapitel über den BER, diesen berühmt-berüchtigten Berliner Großflughafen, weil ich mir dachte, dass in jeder zweiten Zeitungsnummer etwas darüber drinsteht, so dass ich nichts Neues dazu sagen kann. Also habe ich das weggelassen. Andere Kapitel habe ich sogar für die deutsche Ausgabe neu geschrieben, so zum Beispiel das lange Kapitel über West-Berlin und seine Kneipenszene, und auch das Schlusskapitel der deutschen Ausgabe ist sehr anders als das der amerikanischen Ausgabe. Aber sonst sind die wesentlichen Kernstücke identisch, etwa über das Weiterleben der Stasi, über Neukölln, auch dieses unangenehme Kapitel über diese schrecklichen Totschlägereien und Tottretereien in S- und U-Bahnhöfen.
RALPH KRÜGER: Das ist schon bemerkenswert. Wenn ich mir einen amerikanischen Leser Ihres Buches vorstelle, so erhält er ja doch ein ziemlich umfangreiches und multiperspektivisches Bild von dieser Stadt.
PETER SCHNEIDER: Und es ist ja keine Werbung. Ich habe ja absichtlich nicht den Touristenführer gemacht, der sagt: „Hier ist es schön, und da ist es noch schöner…“; sondern ich habe ein ganz persönliches Porträt, das mit meiner Lebensgeschichte zu tun hat, gezeichnet, was ja auch sehr weit zurückgeht: Ich habe ja auch die ganzen 60er Jahre nachgezeichnet und meine damaligen Irritationen beschrieben, als ich als junger Süddeutscher, aus Freiburg kommend, hier Fuß fasste. So etwas passt nicht in einen Touristenführer, sondern es ist ein literarisches Porträt des Autors Peter Schneider.
RALPH KRÜGER: Wie sind Sie denn an dieses Buchprojekt konkret herangegangen? Wie haben Sie sich Ihre Themen oder die Schwerpunkte und Ihre Interviewpartner gesucht?
PETER SCHNEIDER: Es war mein Ziel, ein erzählendes Sachbuch zu schreiben, das reich ist an Begebenheiten und Charakteren und an Bildern, die im Kopf bleiben. Das Muster, dem ich gefolgt bin, war ganz einfach: Ich erzähle Berlin anhand von bekannten und zum Teil auch unbekannten Persönlichkeiten, die ich aber für die Stadt wichtig und typisch finde, und ich glaube, das habe ich auch getan. Sie werden also eine ganze Reihe von Leuten, die hier zu Wort kommen, kennen, wie zum Beispiel Herrn Buschkowsky, und andere Personen werden Sie nicht so kennen, wie Fred Riedel, der hier seine Abenteuer in der Kneipenszene der sechziger Jahre beschreibt, oder auch die von mir sehr bewunderte Necla Kelek, die Türkin, die mit einem Bestseller auf sich aufmerksam gemacht hat, „Die verkaufte Braut“. Ich habe mir also zu den Problemkreisen und zu den Stadtteilen, die ich beschreibe, Personen gesucht, die das mittragen.
RALPH KRÜGER: Gerade wenn man diese Geschichten aus den 60er Jahren liest, über die West-Berliner Kneipenszene und die Vermieterinnen, die im Westen in diesen riesigen Altbauwohnungen ganz alleine lebten, so ging es mir als gebürtigem Berliner, der diese alten Damen mit ihren Kamelhaarmänteln und den beigen Topfhüten auch noch kennt, dann merkt man noch einmal, wie sehr sich doch diese Stadt verändert hat. Das bezieht sich natürlich nicht nur auf die letzten 50 Jahre, sondern Berlin hat sich ständig geändert.
PETER SCHNEIDER: Ich glaube, das ist sogar eine der Attraktionen von Berlin. Es gibt keine Stadt, die so wüste Wendungen im letzten Jahrhundert hingelegt hätte, wie Berlin. Fangen wir einfach nur einmal an mit den sogenannten „goldenen zwanziger Jahren“, dann kommt die Nazizeit, Hitler, die Hauptstadt des Dritten Reiches, die Hauptstadt auch des Holocausts, wo das alles ausgeklügelt wurde; dann haben wir die besiegte Hauptstadt, die zerstörte Hauptstadt und auch die geteilte Hauptstadt, damals ein noch einmaliges Experiment, das ja immerhin 28 Jahre dauerte, wobei die Stadt natürlich auch schon länger geteilt war, seit 1948/49, nicht erst seit der Mauer. Dann ist Berlin die Stadt, in der die Mauer fällt. Die Mauer war bis dahin ein weltweites Symbol der Unfreiheit, sozusagen unsere Statue of Liberty, genauso bekannt, und es war natürlich unglaublich kurzsichtig von den damaligen Regierenden, nirgendwo ein authentisches und repräsentatives Stück dieser Mauer zu erhalten! Ich habe auch diese ganzen Mauergedenkstätten besucht und bin zu dem Ergebnis gekommen, das dies alles vollkommen lächerlich ist. Es ist ja auch typisch, dass viele, die jetzt die Eastside Gallery besuchen, sich einbilden, vor der originalen Mauer zu stehen! Diese Mauer hat mir den eigentlichen Grenzanlagen nichts zu tun, das ist nämlich die sogenannte Hinterlandmauer, die hinter der richtigen Mauer stand und die auch nur bemalt werden konnte, als es die richtige Mauer gar nicht mehr gab. Also da haben die Regierenden wirklich einen Riesenbock geschossen, weil sie auch ein falsches Verhältnis zur Stadt gehabt haben. Denn Berlin ist nicht attraktiv in dem Sinne, wie man sagt: „Das ist eine tolle, schöne Stadt!“; schöne Städte kennen wir alle: das ist Paris, das ist auch die City von London, die Innenstadt von Rom – aber wo ist denn das alte Berlin? Berlin hat ja nicht einmal ein richtiges Stadtzentrum.
RALPH KRÜGER: Was als Stadtzentrum einmal da war, wurde ja durch den Krieg und die Teilung zerstört.
PETER SCHNEIDER: Das ist nicht mehr da. Was man jedoch an Berlin so aufregend findet, sind genau diese Risse in der Geschichte, was nicht aufgehen will, und auch das Haarsträubende, was teilweise an Hässlichkeit hier existiert. Berlin hat auch seine schönen Ecken, das will ich gar nicht bestreiten: Sie haben in Zehlendorf ein wunderbares Ensemble von Häusern, Sie haben auch in Charlottenburg herrliche Straßen, und wir finden sie auch im Prenzlauer Berg. – Aber das sind eigentlich immer nur Ausschnitte, die sich nicht zu einem echten Stadtkern fügen. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, warum Berlin so unglaublich populär ist. Ich reise selbst sehr viel, und Berlin ist mit Abstand die populärste Stadt in Europa. Wenn man mit Leuten ins Gespräch kommt, dann will kein Mensch wissen, wie es München oder Hamburg geht, sondern sie wollen wissen, was gerade in Berlin los ist. Da kann man fast gönnerhaft zu dem viel schöneren München oder Hamburg sagen: Da können die nicht mithalten. Vielleicht ist es aber auch gerade das, was an diesen schönen Städten fehlt: das Zerrissene, das Halbfertige, das Unfertige, das Noch-nicht-zu-Ende-Gebaute. Das alles ist inkludierend, während Schönheit meist exkludierend ist. Wenn Sie in schöne Städte kommen, haben Sie das Gefühl: Alles zu teuer, hier kriege ich keinen Fuß auf den Boden, alle Türen zu. In Berlin hat man grundsätzlich das Gefühl, und das ist immer noch so: Hier kann ich noch was machen, hier kriege ich noch den Fuß zwischen die Tür!
RALPH KRÜGER: Also eigentlich immer noch eine Aufbaustimmung. Beim Lesen kam mir auch der Gedanke, ob diese stadtarchitektonische Leerstelle, welche Berlin mit seinem fehlenden Zentrum charakterisiert, nicht eine einzigartige Handlungs- und Gestaltungsfreiheit eröffnet, die man in geschlossenen Ensembles der schönen Städte so nicht mehr findet?
PETER SCHNEIDER: Für junge Leute kommt dann natürlich noch hinzu, dass Berlin ungleich viel billiger ist als diese Städte.
RALPH KRÜGER: Es gibt, glaube ich, auch keine andere europäische Hauptstadt, die so preiswert ist wie Berlin, auch wenn das die Berliner nicht gerne hören werden.
PETER SCHNEIDER: So ist es! Selbst verglichen mit Prag oder Budapest, wenn man dort nach den Miet- und Verkaufspreisen fragt. Das wird natürlich leider nicht so bleiben, und das hat sich sogar schon verändert, was die Miet- und Kaufpreise von Immobilien angeht. Ich glaube, eine der wichtigsten Aufgaben für die Stadt wird in Zukunft sein, diese Entwicklung mit zu begleiten, wenn man sich anschaut, was in London, Manhattan oder Paris geschieht. Die Stadt muss sich überlegen, wie sie es verhindern will, dass auf lange Sicht auch Berlin nur noch ein Ort für die Schönen und Reichen ist. Ich persönlich kenne beispielsweise viele Journalisten in New York, vor allem von der New York Times, für die ich viel gearbeitet habe: Das sind keine armen Leute, aber von denen kann sich keiner mehr leisten, in Manhattan zu wohnen! Die wohnen da alle nicht mehr, die können das nicht bezahlen. Das ist doch ein Irrsinn, wenn ein halbwegs gut verdienender Journalist nicht mehr in der Stadt wohnen kann, in der er schreibt! – Berlin ist noch weit, weit davon entfernt; aber wir müssen uns fragen, wie wir es verhindern können, dass das genauso läuft? Ich glaube, es geht nur, indem man ganz gezielt eine Politik betreibt, wo nicht der jeweils reichste Investor die besten Baugrundstücke und die Filetstücke bekommt. Das Kapital allein kann nicht das Kriterium sein! Deswegen habe ich auch mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, wie das gelaufen ist, dass die Betreiber des Clubs „Kater Holzig“, der jetzt wieder „Bar 25“ heißt, es geschafft haben, ein relativ zentrales Gelände in der Nähe vom Ostbahnhof von der Stadt zu kriegen – eben gerade nicht als der Bestbietende, sondern weil die Stadt gesagt hat: Dieser Club ist ein Stück Kultur, das wir uns erhalten wollen, und das ist es uns wert, dass wir nicht die Bestbietenden bevorzugen.
RALPH KRÜGER: Das wäre genau meine nächste Frage gewesen: Wie kann man so etwas über die Stadtpolitik erreichen, ohne dabei zu paternalistisch oder dirigistisch zu werden?
PETER SCHNEIDER: Man muss schon ein bisschen dirigistisch werden. Man muss den Immobilienfirmen ganz klar sagen, dass ein gewisser Prozentsatz für die Hochvermögenden reserviert ist; wir halten aber auch einen Teil dieses Quartiers frei für die Leute mit mittlerem oder minderem Einkommen. Anders kann es gar nicht funktionieren. Das muss sich eine Stadt wie Berlin natürlich fragen. Die Frage, wo will ich wohnen oder wo kann ich wohnen, ist eine der vitalsten Lebensäußerungen, mit denen ein Mensch sich definiert: Wo wohne ich? In welche Kneipe gehe ich? Was sind meine Freunde? Die Wohnung spielt eine Riesenrolle bei diesen Definitionen. Dass die Wohnung nicht 60-70% des Gehalts kostet, da müssen wir hin! Und da müssen wir wahrscheinlich auch Pioniere sein, wobei ich es am ehesten noch den Skandinaviern zutraue, dass die auch in diesem Punkt ihre eigenen Wege gehen. Da kenne ich mich nicht so aus, aber auf jeden Fall kann ich sagen: Die Städte, die ich kenne, also Manhattan, London, Rom – die können sie in diesem Punkt alle vergessen.
RALPH KRÜGER: Berlin hat ja, international gesehen, auch gerade die Kultur als Kapital.
PETER SCHNEIDER: Und auch gerade diese Szene, die eher arm als reich ist. Wovon Berlin ja ganz besonders lebt, das sind diese merkwürdigen, vernachlässigten Orte: die ehemaligen Seifenfabriken, die ehemaligen Kühlhäuser, die ehemaligen Bahnhöfe, die ehemaligen Flugplätze und so weiter… Von wem wird´s nun belebt? Von diesen jungen, mittellosen Leuten! Wenn dann in diese ehemaligen Fertigungshallen jetzt plötzlich die Reichen einziehen und ihre Flugplätze auf dem Dach bauen für den Hubschrauber, dann ist es natürlich aus. Dann fühlen die sich auch gar nicht mehr wohl, denn sie sind ja nur hingekommen, weil der Kiez lebendig ist.
RALPH KRÜGER: Und die Karawane zieht ja immer weiter, ist ständig in Bewegung: vom Wedding nach Neukölln und weiter…
PETER SCHNEIDER: Kreuzberg ist ja auch solch ein extremer Fall der Wandlung! In Kreuzberg sind die Preise ja irrsinnig angestiegen in den letzten zwei, drei Jahren. Ich habe da neulich eine Statistik gelesen: mehr als in jedem anderen Viertel. Das bedeuet aber natürlich auch, dass dort die alten Bewohner massiv rausgetrieben werden. Die ziehen dann nach Spandau oder auch nach Hellersdorf, habe ich gehört… Das betrifft vor allem die türkische Bevölkerung, die ja einen wesentlichen Anteil an der Struktur von West-Berlin hat und dort das Klima geprägt hat, was das Angebot an Waren und Lebensmitteln betrifft. Diese türkische Bevölkerung fehlt ja im Osten nahezu völlig! Selbst im Prenzlauer Berg gibt´s die gar nicht. Dort finden Sie eher Engländer, Amerikaner und so. Aber jetzt gibt es wohl einige Türken, die aus Not auch von Kreuzberg nach Hellersdorf gezogen sind.
RALPH KRÜGER: Das könnte ja der ethnischen Durchmischung in Hellersdorf eigentlich nur gut tun.
PETER SCHNEIDER: Davon kann Hellersdorf eigentlich nur profitieren. Die DDR und im eigentlichen Sinne auch Ost-Berlin waren bis zur Wende das ausländerfreieste Territorium in ganz Europa. Das war ein Prozent – ein Prozent! Jetzt sind es 2,2 Prozent oder so. Das habe ich gerade im Zusammenhang mit Pegida gehört: in der Tat nur 2,2 Prozent Ausländeranteil in ganz Sachsen.
RALPH KRÜGER: Und doch haben die Leute ein diffuses Angstgefühl, was durch die Medien geschürt wird, jedoch im Grunde völlig irrational und unbegründet ist.
PETER SCHNEIDER: Völlig unbegründet, Sie haben recht.
RALPH KRÜGER: Springen wir an diesem Punkt einmal zurück zur Berliner Mauer: Sie haben natürlich völlig Recht, dass die Stadt damals eine einmalige Chance vertan hatte, die Mauer als Ganzes wenigstens an einer zentralen Stelle zu erhalten. Man hatte damals im Eiltempo die gesamte Mauer abgerissen, und mir kam es damals schon vor wie eine Art von Bilderstürmerei, was man da erleben konnte.
PETER SCHNEIDER: Es war vor allem auch der falsche Ansatz: Wir wollen nicht an das Hässliche erinnert werden! Das ist immer falsch, denn das Hässliche gehört genauso zu einer Stadt wie das Schöne, Gute und Erhabene!
RALPH KRÜGER: Ohne das Hässliche kann man auch das Schöne nicht wahrnehmen und auch nicht würdigen.
PETER SCHNEIDER: Genau! Damals herrschte eben solch eine spießige Einschätzung von Geschichte.
RALPH KRÜGER: In jenem Kapitel Ihres Buches, in dem Sie das beschreiben, haben Sie auch ein sehr schönes Bild gefunden, denn Sie sagen, dass die Mauer als Lebensumstand eigentlich am besten nachempfunden werden kann in jenem gewaltigen Panoramabild von Yadegar Asisi. Dieses Bild ist ja eine Simulation, und somit kann man in der Simulation der Wahrheit näher kommen, als an den realen Überresten der Mauer selbst. – Dies lässt Sie zu dem Schluss kommen, dass Berlin eigentlich eine ‚Meisterin der Simulation‘ ist…
PETER SCHNEIDER: Der Begriff stammt nicht von mir. Es gibt ein sehr schönes Buch von Bodo Morshäuser: „Die Berliner Simulation“ (1981). Der hat das damals schon einmal als Topos entdeckt. – Aber beschäftigen wir uns einmal mit der heutigen Berliner Simulation: Das ist schon etwas, das ich sehr spannend finde, dass es in Berlin vor allem ganz stark um Symbole geht und um symbolische Ausdrucksformen, die es hervorgebracht hat. Wenn man sich das einmal vor Augen hält: Eine Stadt wird geteilt und durch eine Mauer getrennt; das sind ja geradezu mythologische Vorgänge. Es ist schon seltsam, dass es gar keine Tendenzen gab, diesen Vorgang nach der Beseitigung der Mauer in Szene zu setzen. Oder nehmen sie auch die Tatsache, dass Berlin nach dem Fall der Mauer eine in der jüngeren Weltgeschichte einzigartige Chance hatte: Da haben Sie eine große Stadt eines großen Landes, deren gesamte Mitte neu erfunden werden muss und frei gestaltet werden kann! – Und was haben die gemacht? Das muss man schon sagen, das ist schon ein Armutskapitel: Wir haben die besten Architekten der Welt gehabt, gar keine Frage! Aber diese besten Architekten der Welt haben in aller Regel nur Mittelmäßiges hinterlassen. Wenn ich mir vorstelle, was da in der Schweiz gewesen wäre oder in Paris, wo man ja sehen kann, wie die Altes und Neues verbinden – mit dem Centre Georges-Pompidou und ganz vielen andren Beispielen. Das ist in Berlin doch ziemlich miserabel gemacht worden – auch geschuldet der Hast: Warum muss man denn alles, was da leer war, in fünf Jahren wieder füllen? Das kann gar nicht gutgehen! Ich habe mal am Anfang der neunziger Jahre eine Mini-Serie im SPIEGEL verfasst, die hieß: „Um Himmels willen, nehmt Euch Zeit!“. Das war ein Zitat vom damaligen Leiter der Architektur-Abteilung der Akademie der Künste, Julius Posener. Mit Posener hatte ich seinerzeit ein Interview geführt, und er sagte nur: „Um Himmels willen, nehmt Euch Zeit!“ Das war leider eine Mahnung, die die Stadt überhaupt nicht befolgte. Ich habe damals übrigens den Renzo Piano, mit dem ich ja sehr gut befreundet bin und der hier leider auch nur mittelmäßig gebaut hat, obwohl er ja ein großartiger Architekt ist, gefragt: Kann man denn nicht einfach, wenn man solch ein Areal wie den Potsdamer Platz hat, übereinkommen, dass man erst einmal, sagen wir, 60 oder 70 Prozent der Fläche bebaut und 30 oder 40 Prozent für die nächste Generation frei lässt? Auch um zu sehen, was man falsch gemacht hat und was würde man anders machen und so weiter. Er sagte mir nur: Das sind schöne Gedanken. Die haben wir auch alle, aber die Zwänge der Märkte lassen das nicht zu. Wenn ich ein Areal kaufe, dann muss ich das auch gefälligst vom ersten bis zum letzten Quadratmillimeter ausnutzen.
RALPH KRÜGER: Das kennt man ja auch von einzelnen größeren Bauprojekten, die dann als Fondsanteile verkauft werden, bevor der erste Spatenstich erfolgt ist. Entscheidend ist im Grunde nur die richtige Konzeption, eine schicke Hochglanz-Präsentation des Bauvorhabens, und das war´s. Da wird nicht gefragt, ob spätere Generationen vielleicht ganz andere Ideen haben könnten, sondern es geht allein um den maximalen Profit des einzelnen Objektes.
PETER SCHNEIDER: Dann geht das vielleicht nicht mit den Mitteln der Märkte, die wir haben. Doch was Anderes oder was Besseres haben wir nicht. Das muss man auch dem Hans Stimmann sagen, obwohl ich keineswegs ein so resoluter Gegner bin wie viele, die spreche: Man hätte eine Vision für die Stadt gebraucht sowie ein Konzept, an welchen Orten man wirklich die Berliner Traufhöhe einhält, was ja an vielen Orten durchaus Sinn hat. Zum Beispiel möchte ich auch nicht, dass in Charlottenburg mitten in einem Ensemble von Gründerzeit-Häusern plötzlich ein einzelner Wolkenkratzer in die Höhe ragt. Aber es macht doch überhaupt keinen Sinn am Alexanderplatz oder am Potsdamer Platz. In all solchen Gegenden hätte man deutlich mehr wagen können und auch müssen!
RALPH KRÜGER: Wobei es ja nicht nur die Höhe ist, die problematisch ist, sondern auch die Struktur jener neuen Orte.
PETER SCHNEIDER: Allerdings! Wissen Sie, ich war am Anfang ein leidenschaftlicher Gegner des Schloss-Neubaus. Aber als ich dann gesehen hatte, was am Potsdamer Platz gebaut wurde, hatte ich schon gedacht, was werden die wohl da hinstellen? Dann schon lieber das Schloss als noch einen Potsdamer Platz! Herr von Boddien hat mir einen leidenschaftlichen Brief zu meinem Buch geschrieben, und natürlich ist er auch froh, dass er in meinem Buch recht gut wegkommt. Aber mir imponiert auch wirklich, wenn jemand eine solche Chuzpe und eine solche Besessenheit hat! Das hat mir schon gefallen.
RALPH KRÜGER: In der Tat ist das Schloss-Projekt ja, wenn man es mit den vielen anderen Großprojekten vergleicht, durchaus erfolgreich.
PETER SCHNEIDER: Und es ist im Zeitplan! Das ist doch irre! Nicht die Oper, nicht der Flughafen, aber das Schloss, das eigentlich niemand brauchte.
RALPH KRÜGER: Tja, die Sache mit den Berliner Flughäfen ist auch seltsam, oder? Ich würde fast sagen, hier haben wir es wirklich mit einem weltweiten Alleinstellungsmerkmal zu tun: eine Stadt, die innerstädtische Flughäfen schließt, um einen neuen Flughafen weit außerhalb des City-Bereichs zu bauen, von dem man jetzt schon weiß, dass er, wenn er denn einmal fertiggestellt ist, zu klein sein wird…
PETER SCHNEIDER: Und der Tegeler Flughafen kann anscheinend nicht weiter offen bleiben. Das haben die Verantwortlichen angeblich alles schon durch Verträge abgedichtet. Ich hoffe ja, dass dies nicht so bleibt. Denn nennen Sie mir doch bitte eine einzige große Stadt in Europa – Rom, London, Paris -, die nur mit einem einzigen Flughafen auskommt! Das gibt es gar nicht.
RALPH KRÜGER: Im Gegenteil! Städte wie London geben Milliarden dafür aus, dass sie der Themse Land abgewinnen, um den City Airport zu bauen; und Berlin macht zwei innerstädtische Flughäfen einfach nacheinander zu!
PETER SCHNEIDER: Ich habe mit einem amerikanischen Experten gesprochen. Er mir erklärte, dass der riesige Erfolg von Airlines, die fast schon verschwunden waren wie zum Beispiel South West, besteht darin, dass man innerstädtische oder zentrumsnahe Flughäfen anfliegt, die bereits halb geschlossen waren, so wie in Berlin-Tegel. Als kleine Fluggesellschaften brauchten die nicht diese riesigen Flughäfen wie Kennedy Airport. Jedoch für diese mittleren Gesellschaften reichten diese kleineren innerstädtischen Flughäfen völlig aus und boten den Fluggästen einen großen Zeitvorsprung gegenüber den außerhalb gelegenen Großflughäfen. – Das alles haben die Verantwortlichen überhaupt nicht in ihre Planung einbezogen!
RALPH KRÜGER: Dafür haben wir jetzt beispielsweise auf dem Tempelhofer Feld jede Menge Platz, der auch zumindest zum Teil hätte bebaut werden können, um die Berliner Wohnungsnot etwas zu lindern…
PETER SCHNEIDER: Diese geplante Bebauung der Randbereiche, die übrigens sehr hässlich war, wie vieles, was die Stadt baut, wäre jedoch dringend nötig gewesen. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wächst diese Stadt wieder, und zwar spro Jahr um 50.000 Menschen!
RALPH KRÜGER: Das gab es das letzte Mal in der Zeit 1900 herum, als die Industrialisierung die Menschen in die Stadt zog.
PETER SCHNEIDER: Genau! Und das ist doch eine tolle Sache für diese Stadt, nicht nur für den Finanzsenator, sondern auch für die Berliner selbst! Es ist die Bestätigung, dass diese Attraktion, die Berlin ausstrahlt, sich auch in Bevölkerungszuwachs auszahlt. Aber diesen Neuankömmlingen müssen wir doch auch was bieten! Da haben wir nun solch eine riesige innerstädtische Fläche wie das Tempelhofer Feld: Selbst mit dieser geplanten, hässlichen Bebauung, die ja jetzt durch den Erfolg der Initiative „100 % Tempelhof“ wieder vom Tisch ist, wäre die restliche Fläche des Tempelhofer Feldes, die für die Kite-Surfer, die Kinderwagen schiebenden Mütter und Väter und die selbsternannten Bauern mit ihren Bienenstöcken und seltenen Salaten, die ambulant von Ost nach West und von West nach Ost ziehen, übrig bliebe, immer noch größer als der ganze Tiergarten! Verstehen Sie jetzt, was das für ein Irrsinn ist? und dann findet sich eine Bürgerinitiative, die natürlich auf das mangelnde Wissen der Leute und auf den grundsätzlichen Verdacht gegen die Regierung setzt; und am Ende kriegen die das durch, dass das Tempelhofer Feld nicht bebaut werden darf! – Ich finde das also vollkommen irrsinnig, und ich habe mal einen von diesen Kite-Surfer gefragt, wie denn eigentlich so die Windverhältnisse auf dem Feld sind. Der sagte mir: Das ist schon ganz gut, und das kann man woanders in der Stadt so nicht machen wie hier. Aber damit so richtig Zug im Kite-Segel wäre, müsste man eigentlich die angrenzenden Stadtviertel auch noch abreißen, damit man einen ordentlichen Wind hat… Dann halten wir uns doch bitte an diese Maßgabe!
RALPH KRÜGER: Auf der anderen Seite finde ich trotz des vielleicht fragwürdigen Ergebnisses gerade diese Bürgerinitiative „100 % Tempelhof“ für ein tröstliches Beispiel, das zeigt, dass die Bürger heutzutage den Marktmechanismen doch noch nicht ganz schutzlos ausgeliefert sind, sondern durch die Artikulation eines, wie auch immer gearteten, „Bürgerwillens“ Paroli bieten können. Dennoch muss man konstatieren, dass Bürgerinitiativen gerade in Berlin sehr oft zu Stagnationen und zum Stillstand in sich entwickelnden Prozessen führen.
PETER SCHNEIDER: Das ist auch eine ganz große Gefahr für Berlin! Natürlich ist dies auch ein Teil der Attraktion, die Berlin ausmacht, dass hier wirklich immer noch das Prinzip „Keine Macht für niemand“ herrscht, das ehemalige Motto von Ton Steine Scherben aus den frühen 70ern. Das ist jedoch für die Phase, in der wir uns jetzt befinden und wo wir plötzlich lernen müssen, in Zeiträumen von 20, 30, 40 Jahren zu denken, nicht mehr ausreichend. Das musste West-Berlin damals nicht: zwei Jahre Vorausplanung haben genügt. Plötzlich müssen wir also in diesen großen Dimensionen denken, haben aber keine Leute, die das gelernt haben! An diesem Punkt fängt man ja manchmal fast schon an, die Chinesen zu beneiden, die natürlich, wenn sie eine Bahn zum Himalaya bauen, 30 Jahre vorausdenken und sich überlegen müssen, was das kostet und wer diese Kosten trägt und so weiter. Berlin ist genau am anderen Ende dieses Beispiels. Ich muss schon sagen, dass hierin eine große Gefahr steckt, dass die Stadt über keinerlei Konsens verfügt, was die Zukunft der eigenen Stadt angeht. Das hat sich ja auch gerade wieder bei der Olympia-Bewerbung gezeigt. Alle widersprechen allen, und das ist ja auch was Hübsches. Keiner kann irgendwas durchsetze. Wunderbar, alles bleibt so, wie es ist. Aber wenn Sie plötzlich große Projekte entweder umsetzen oder verwerfen muss, dann reicht dieses spießige, kleinkarierte Von-Tag-zu-Tag-Denken nicht mehr aus.
RALPH KRÜGER: Im Grunde haben wir es bei dieser Form der Verweigerung mit einer Art von linkem Konservatismus zu tun. Es gilt das oberste Prinzip der Stagnation.
PETER SCHNEIDER: Na klar, absolut! Man muss doch nur an die folgenden Dinge erinnern: Als es seinerzeit darum ging, dass ICE-Züge nach Berlin rollen sollten, da haben die Grünen – oder war es damals noch die Alternative Liste? – sich vehement gegen die ICE-Trassen gewehrt und gefordert, dass die ICE-Züge nur bis Spandau rollen sollten; danach sollten alle Fahrgäste mit der S-Bahn fahren… Das wunderschöne, edle Berlin der Grünen sollte also von keinem ICE erreichbar sein. Das muss man sich mal vorstellen! – Als die Mauer fiel, da gab´s ja auch die Frage, was man mit dieser riesigen Fläche des Mauerstreifens macht? – Die Grünen schlugen vor: einen Park bauen, alles bepflanzen, ein Grüngürtel mit Wegen für Mütter und Väter und Kinderwagen. Ich finde das schon manchmal skandalös. Wir sind die Stadt mit dem meisten Grün auf der ganzen Welt! Man nenne mir bitte eine andere Stadt, die etwas Ähnliches zu bieten hat. Aber wenn man solche eine Fläche wie den Mauerstreifen hat, heißt es sofort: Die Atemluft, die „Lunge der Stadt“ ist in Gefahr! Die Stadt kriegte ja gar keinen Atem mehr, wenn Tempelhof bebaut würde! – Das ist doch alles irrsinnig! Die leben in einem grünen Wolkenkuckucksheim und merken gar nicht, was da draußen in der Welt um sie herum los ist! Die projizieren die eigene luxuriöse Existenz auf die ganze Welt; natürlich ist das luxuriös, wie wir leben, vielleicht nicht vom Einkommen her, aber wie wir leben, wieviel Platz und wieviel Grün- und Parkanlagen wir haben! Der Rest der Welt schüttelt nur den Kopf und fragt: Sagt mal, was ist eigentlich mit Euch los?! Guckt Ihr Euch gelegentlich mal ein bisschen um?
RALPH KRÜGER: Macht diese gewisse selbstbezogene und selbstzufriedene Weltvergessenheit der Berliner für den Auswärtigen nicht vielleicht sogar gerade einen gewissen Reiz aus?
PETER SCHNEIDER: Das sagen ja alle, die hierher kommen. Ein New Yorker, der aus Manhattan hierher kommt, der ist natürlich bezaubert von dem vielen Platz, von dem vielen Grün in der Stadt, von den großen Altbauwohnungen mit ihren 3,8 m hohen Wänden, von den vielen Parks, die wir so zahlreich in Berlin haben und von denen ja nach der Vereinigung noch eine ganze Reihe dazu gekommen sind. Ich bin selbst übrigens noch nicht einmal dazu gekommen, in den Tierpark im Osten zu gehen: ein riesiges Areal und wahrscheinlich das freieste Gelände für Tiere, das es in großstädtischen Parks überhaupt gibt. Auch den Treptower Park habe ich mir erst kürzlich so ein wenig erschlossen… Es ist ja fantastisch, wieviel Grün es in dieser Stadt gibt. – Washington ist vielleicht die einzige Stadt, mit der ich das vergleichen kann; ganz Washington ist ja von einem urzeitlichen und natürlich belassenen Park durchzogen. Aber ansonsten besitzt Berlin natürlich eine unglaublich privilegierte Situation. Ich möchte natürlich sagen, dass ich das auch sehr schön finde, gar keine Frage! Aber es hat in Berlin auch manchmal schon geradezu hysterische Züge, wenn es um den Schutz des Grünen geht.
RALPH KRÜGER: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die politische Entwicklung Berlins und weisen den Dekaden bestimmte Eigenschaften zu. So haben wir die bewegten 60er, die etwas verträumten 70er, die leblosen 80er, die ich selbst übrigens gar nicht als so ruhig empfunden hatte, wenn man an die Hausbesetzerszene in Berlin denkt…
PETER SCHNEIDER: Sehen Sie, und ich habe die 80er im Vergleich zur Studentenbewegung der 60er als eher leblos empfunden.
RALPH KRÜGER: Danach kamen dann die 90er, in denen man, so mein Eindruck, vor allem mit sich selbst beschäftigt war… Doch wie würden Sie die Phase beschreiben, in der wir uns jetzt befinden?
PETER SCHNEIDER: Ich würde die Migration als eines der entscheidenden Phänomene bezeichnen, die wir gegenwärtig erleben, und ich denke, das kann noch ganz enorm spannend werden. Ich will es mal ganz extrem sagen: Auch wenn die Hälfte der in Berlin lebenden Menschen Muslime wären, könnte ich sehr gut damit leben – vorausgesetzt, dass sie integriert werden. Vorausgesetzt, sie würden sich an die Trennung von Religion und Staat halten, wobei es bitteschön nicht um eine deutsche Leitkultur geht, sondern um eine universalistische Kultur, die zum Beispiel vorschreibt, dass Frauen dieselben Rechte haben wie Männer, dass Frauen nicht gegen ihren Willen verheiratet werden dürfen, dass kurz und gut die Grundrechte und Menschenrechte gelten und durchgesetzt werden. Dann ja. Das ist aber eben keineswegs der Fall. In diesen Sachen bin ich jedoch ganz militant und intolerant! Ich finde beispielsweise auch die Erlaubnis des Kopftuchs der Lehrerin eine falsche und verheerende Entscheidung von alten Herren, die das aus der Praxis nicht kennen; denn natürlich ist das Kopftuch ein religiöses Zeichen, ein Zeichen für die Unterdrückung von Frauen, auch wenn sie es angeblich selbst gewählt haben; aber hier geht es eben auch um die kleinen Mädchen, die im Hochsommer mit zehn Jahren mit Kopftuch zur Schule gehen müssen – und zwar erst, seitdem sie islamischen Religionsunterricht haben. Also da bin ich viel weniger tolerant als viele Andere, die sich für tolerant halten. Thomas Mann hat mal gesagt: „Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.“
RALPH KRÜGER: Sie sprechen gerade von jenen „Kulturrelativisten“, wie Sie sie nennen.
PETER SCHNEIDER: Genau. Da bin ich wirklich absolut intolerant. Es geht mir überhaupt nicht um die ethnische Herkunft oder um die Religion des Einzelnen. Aber ich verlange dann auch, dass diese ethnischen und religiösen Dinge sich grundsätzlich zunächst einmal an den Menschenrechten ausrichten müssen! Dann kann ich das alles ertragen und billigen. Ich habe mit der Migration überhaupt kein Problem, im Gegenteil! Ich empfinde die Migration wirklich als eine Bereicherung unserer Kultur. Es ist spannend, eine Gesellschaft zu beobachten, in der sich so viele Ethnien, Gesichter, Farben mischen. Das ist doch wunderbar! – Aber es ist nicht wunderbar, wenn das einhergeht mit einem Zerfall des demokratischen Konsenses, was zu etwas sehr Gefährlichem werden kann. Das habe ich ja auch in meinem Buch markiert. Das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Vor diesen Herausforderungen steht ja eigentlich jede Großstadt; denn es ist ja jetzt schon so, dass in bestimmten Zentren jedes zweite Kind einen Migrationshintergrund hat und meist muslimischer Herkunft ist. Wenn wir es nicht schaffen, diese Kinder zu uns herüber zu ziehen, dann haben wir bald ein echtes Problem! Das wollen ja viele nicht sehen.
RALPH KRÜGER: Ich habe mich Ihren Ausführungen gerade gefragt, was wohl das Band sein könnte, was eine multiethnische Gesellschaft zusammenhalten kann. Sind es die Menschenrechte, von deren universeller Gültigkeit wir überzeugt sind? Damit die Menschenrechte diese Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages bilden können, müssen sie aber auch von allen anerkannt werden.
PETER SCHNEIDER: Selbstverständlich. Das kann und muss die Grundlage sein. Sowie natürlich die Trennung von Religion und Staat. Wenn das nicht stattfindet und wenn man das nicht strikt voneinander trennt, dann kann es auch keine Gemeinsamkeit geben.
RALPH KRÜGER: Es erfordert aber natürlich auch die gegenseitige Toleranz.
PETER SCHNEIDER: Selbstverständlich. Aber eben auf der Grundlage dieser gemeinsamen Menschenrechte. Das ist ja in vielen Teilen Amerikas gelungen; obwohl man ja immer wieder den Amerikanern, die mit einer gewissen Arroganz auf uns Europäern heruntersehen, etwas sagen muss: Wir haben es mit einer anderen Geschichte von Multi-Kulti zu tun als die Amerikaner. Als die Amerikaner auf diesem neuen Kontinent Fuß fassten, gab es keine Einheimischen mehr, oder sie wurden mehr oder minder ausgerottet und in Reservate verdrängt. Alle Neu-Amerikaner kamen von woanders her. Das ist schon etwas Anderes, als wenn Sie wie in Europa beispielsweise in Italien Leute haben, die seit über 2000 Jahren auf diesem selben Flecken Erde leben. Oder die Deutschen, die Franzosen und die Engländer, die das seit über 1000 Jahren tun. Das können Sie nicht einfach gleichsetzen.
RALPH KRÜGER: Diesen Migrationsbewegungen liegen ja auch zwei verschiedene Gesellschaftsmodelle zugrunde: zum einen das Konzept des „melting pot“, wie wir ihn in New York beobachten können, und zum anderen das Modell der ethnischen und sozialen Segregation, wie es für viele andere Großstädte typisch ist.
PETER SCHNEIDER: Ich glaube, dass wir durchaus in Berlin die Chance haben, hier einen eigenen Weg zu gehen, der die Idee der Integration gegenüber der Segregation bevorzugt. Wir müssen einen strikten Anti-Rassismus etablieren. Wir können und dürfen es einfach nicht hinnehmen, wenn irgendeine Ethnie aus solchen Gründen abgelehnt wird. Aber die Gegenseite des Anti-Rassismus und der Ablehnung des Antisemitismus muss sein, dass wir einen demokratischen Konsens finden, der auf der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Gleichberechtigung natürlich auch der Homosexuellen und auf der Trennung zwischen Staat und Religion beruht. Das ist das Allerwichtigste. Diese Trennung von Staat und Religion ist eben in einigen Religionen (ich nehme hier absichtlich den Plural) noch nicht in befriedigender Weise vollzogen. Das gilt auch für bestimmte Varianten der jüdischen Religion.
RALPH KRÜGER: Und auch für das Christentum, wen man es genau nimmt.
PETER SCHNEIDER: Da haben Sie Recht.
RALPH KRÜGER: All diese Ideen – universelle Menschenrechte, Gleichberechtigung, Toleranz, Trennung von Kirche und Staat – gehen doch auf die Iden der Aufklärung zurück.
PETER SCHNEIDER: Absolut. Deswegen ist auch das Einzige, was mir an diesem ansonsten doch sehr gelungenen und aufregenden Buch von Michel Houellebecq („Unterwerfung“, 2015) missfällt, ist, dass er nicht nur im Buch, sozusagen in der Rollenprosa, sondern auch in seinen eigenen Statements keinen Zweifel daran lässt, dass er überhaupt nichts von den Idealen der Aufklärung hält. Ich finde das katastrophal! Ich weiß überhaupt nicht, woran er sich noch festhält?! Er ist ja wirklich ein Nihilist und Zyniker. Er soll damit ruhig seine Erfolge feiern, aber imponieren tut mir das überhaupt nicht.
RALPH KRÜGER: Es ist ja letztlich auch das falsche Signal, was er dadurch aussendet.
PETER SCHNEIDER: Ich glaube auch, das ist vollkommen falsch. Die aufgeklärte Gesellschaftsform ist mit Abstand die zivilste und die fortschrittlichste auf der Welt. Es ist übrigens auch völlig falsch, es so zu sagen wie unser verehrter Raucher Helmut Schmidt, man solle bitte die Chinesen mit den Menschenrechten in Ruhe lassen; die würden ja weder im Neuen Testament stehen (da kann man sich übrigens sehr darüber streiten) noch im Alten Testament (das macht mehr Sinn), und die Azteken hätten auch keine Menschenrechte gekannt… Ganz tolles Beispiel (negativ gemeint)! Ähnliches hat man mir über die Türkei gesagt und über die muslimischen Kulturen. Aber was war denn da auf diesen Plätzen in Istanbul, in China, in Ägypten, in Tunesien? Haben wir da nicht gesehen, dass eine (wenngleich kleine) Minderheit sich für diese Werte eingesetzt hat. Natürlich sind es noch kleine Minderheiten bis jetzt, das will ich gar nicht bestreiten. Es waren übrigens auch kleine Minderheiten, die sich mal für eine deutsche Demokratie ausgesprochen haben vor 1848. So war es auch in Frankreich vor der Revolution. Man muss also schon ein bisschen länger abwarten, bevor man den Mund so weit aufmacht und meint, dass das alles für die Anderen keine Rolle spielt. Ich bin überzeugt davon, dass am Ende alle einigermaßen aufgeklärten und mit Bildung bedachten Minderheiten und schließlich auch Mehrheiten genau dieselben individuellen Menschenrechte haben wollen, die wir haben. Deshalb blicken die Leute auch, wenn sie raus wollen aus ihren Bedrängnissen, nach Europa und Amerika.
RALPH KRÜGER: Ich finde, das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank, Herr Schneider, für dieses interessante Gespräch.
PETER SCHNEIDER: Ich danke Ihnen.