Die westliche Kultur ist komplett sexualisiert. Was in den Siebziger und Achtziger Jahren noch als audiovisuelle Ausdrucksform einer Parallelgesellschaft galt – der Pornofilm als Produkt einer gesellschaftlichen Randzone, der Porno-Industrie – ist heute zum intrinsischen Merkmal unserer Kultur mutiert. Heute gibt es den „Porn Chic“, und das Werturteil „porn“ hat, wie „cool“ oder „krass“, längst Einzug in die jugendliche Alltagssprache gehalten.
Was ist mit einer Gesellschaft los, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Kultur und Porno? Die Porno als integralen Bestandteil der eigenen Kultur versteht und die offene Zurschaustellung von Geschlechtsteilen, masturbatorischen Bewegungen und obszöner Sprache als Befreiung feiert bzw. längst als selbstverständlich und als keines weiteren Kommentars mehr nötig ansieht?
Nicola Steffen hat für ihre Dissertation über den „Porn Chic“ über 1.000 Clubflyer analysiert und dabei festgestellt, wie tief die Porno-Ästhetik in unserer Gegenwartskultur verankert ist. Nicht nur in der Werbung und in der Pop-Kultur sind Sex und Porno zum neuen Standard geworden, sondern vor allem die rapide Ausbreitung der sozialen Medien sowie die technologische Evolution des Internets haben zu einem steilen Anstieg der pornifizierten Inhalte einerseits und zu einem steilen Absturz der Erregungskurven andererseits geführt.
Pornografie ist allgegenwärtig und deshalb langweilig geworden. Die permanente Steigerung der Erregung durch die Übertretung von gesellschaftlichen Normen und Gesetzen funktioniert im Pornozeitalter nicht mehr. Wenn es alle machen, alle zeigen, sich offenbaren und entblößen, so bleibt kein Platz mehr für das Geheimnis und keine Gelegenheit mehr zur Enthüllung.
Wir brauchen gar nicht an Food Porn denken (an das Vanille-Eis, das zart auf den Lippen einer jungen Frau schmilzt, an das Bier, das in ihrem Bauchnabel prickelt, an den weißen Schaum des Duschgels, das unter der Dusche an ihren nackten Brüsten hinabperlt), um auch hier die Pornifizierung des Alltags zu entdecken; wenn wir den Fernseher einschalten, wenn wir auf die Straße gehen, in Zeitschriften blättern oder einfach nur mit wachen Augen unsere Umwelt und uns selbst beobachten, so werden wir merken, wie sehr und wie tief unser Alltag durch sexuelle und sexistische Symbole und Bilder durchdrungen ist. Alles ist porno.
Wenn Dreizehnjährige mit dem Handy sich selbst und die Freunde beim Sex filmen und diese Filmchen dann ins Netz posten, ist das für Leute über 30 alles andere als normal. Aber der Umgang mit Sexualität, mit dem eigenen und dem fremden Körper, Sozialverhalten und Sexualverhalten, waren schon immer sozial anerzogene Verhaltensweise, die kulturell bedingt und durch Normen bestimmt sind. Kollektive habituelle Verhaltensweisen können das normative Gerüst einer Gesellschaft verändern. Veränderung ist nichts Schlechtes, sie sind sogar lebensnotwendig, um eine Gesellschaft weiter zu entwickeln und das Leben in ihr attraktiv zu machen. Doch wie konnte es passieren, dass die Pornografie plötzlich zu einem Bestandteil der Alltagskultur wurde?
Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die jüngere Geschichte der Pornografie in Deutschland. Die Siebziger, Achtziger und Neunziger Jahre bieten die Grundlage und den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Britney Spears und Paris Hilton präsentieren den Paparazzi ihre rasierten Geschlechtsteile, und die ganze Mädchenwelt darf sich an einem neuen Paradigma orientieren und sich ganz unbehaart schön fühlen. Überhaupt die Haarlosigkeit: Sie galt seit der Antike als Zeichen der Sauberkeit und Körperpflege; aber es kann nicht übersehen werden, dass die unbehaarte Scham einer Frau auch an das unschuldige, kleine Mädchen erinnern soll, als ein Zeichen der Jungfräulichkeit und Unschuld.
Dieser weibliche Code der Unschuld appelliert an den Sexualpartner, jene Unschuld durch seine männliche Präsenz/Potenz zu rauben, die Jungfrau zur Frau zu machen, sie sich zu unterwerfen. – Entsprechend mit anderen Vorzeichen wird die Femme fatale den schüchternen Jüngling, den unbehaarten Jungmann in die geheimen Rituale der sexuellen Lust einweihen… Diese auf rudimentären Geschlechterrollen basierenden Aspekte konterkarieren alle Erfolge des Feminismus und der Gleichberechtigung von Mann und Frau; ja, sie sind vielleicht sogar der Ausdruck einer Überforderung durch das normative Diktum des Gender-Mainstreams.
Eine der neueren Entwicklungen der Pornifizierung ist „Sporno“, die Kombination aus Sport und Porno: Wenn sich Ronaldo nach einem Tor das Trikot vom Oberkörper reißt und seine glatt rasierte männliche Brust präsentiert, so geschieht etwas Seltsames. Der Fußballstar, durchtrainiert und Ebenbild männlicher Kraft und Stärke, wird im Moment der Selbstentblößung zu einem seltsam androgynen Wesen mit unbehaarter Brust und einer glatten, fast femininen Haut. Sporno ist androgyn oder auch asexuell. Im Sporno schließt sich der Kreis und vollendet die simultane Entwicklung von Pornifizierung und De-Sexualisierung.
Wenn der starke Reiz zur Alltäglichkeit wird, braucht man einen stärkeren Reiz zur Erregung. Der weltweite Erfolg der sadomasochistischen Hausfrauenspiele von „Fifty Shades of Grey“ hat hier seine Wurzeln. Wo hört Kunst auf, und wo fängt Pornografie an? Gehört der Wunsch nach (aktiver/passiver) Unterwerfung zu einer offenen und fortschrittlichen Gesellschaft? Oder ist die Unterwerfung nur die dunkle Schwester der Überforderung durch die Gleichberechtigung der Geschlechter?
Nicola Steffens Buch über die Pornifizierung des Alltags umfasst ca. 300 Seiten, aber das Nachdenken über die Lust und die Qualen der permanenten Selbstdarstellung in Zeiten des Internets geht viel, viel weiter. Nicola Steffen stellt die richtigen Fragen und lässt dem Leser viel Freiheit für eigene Deutungsversuche. Wo stehen wir? Wohin gehen wir? Was sind die Alternativen zu einer durchpornifizierten Gesellschaft?
„Porn Chic“ ist ein soziologisch-philosophische Sachbuch am Puls der Zeit. Es bleibt zu wünschen, dass es nicht nur von sensationslüsternen Lesern konsumiert wird, sondern zu einer breiten Debatte über den Wertekanon unserer Gesellschaft anregt.
Autor: Nicola Steffen
Titel: „Porn Chic – Die Pornifizierung des Alltags“
Broschiert: 300 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423260319
ISBN-13: 978-3423260312