Vor vier Jahren sorgte Tom Rachmans Roman „Die Unperfekten“ für einige Furore auf dem deutschen Buchmarkt. Jetzt erscheint pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2014 sein neuer Roman: „Aufstieg und Fall großer Mächte“. Worum geht es? Eine junge Frau auf dem Weg zu sich selbst. Das klingt als Plot nicht allzu originell, aber die Art und Weise, wie Tom Rachman diese Suche gestaltet, ist bemerkens- und lesenswert.
Tooly Zylberberg ist eine junge Frau, die in ihrem Leben schon viel gesehen und an vielen orten gelebt hat: die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Thailand, Kenia… Toolys junges Leben hat eine bewegte Vergangenheit, doch sie spricht nicht gern darüber, wenn sie gefragt wird. Denn sie „hat“ diese Vergangenheit nicht; ihre Geschichte ist voller Rätsel – vor allem für sie selbst. Deswegen beschließt Mathilda, wie Tooly wirklich heißt, auf die Suche nach ihrer eigenen Geschichte zu gehen. Der Roman ist dementsprechend aus zwei sich überlagernden Handlungswelten aufgebaut: der Rahmenerzählung, der diegetischen Welt der jungen Frau, die sich auf die Suche nach sich selbst begibt, und der innerdiegetischen Welt der Binnenerzählung ihrer früheren Erlebnisse in allen Teilen der Welt.
Die Suche nach den eigenen Wurzeln, nach dem eigenen Vater und der Bedeutung der Schlüsselfiguren ihres Lebens wird für Tooly zur alles bestimmenden Aufgabe ihres Lebens. Es sind die klassischen Fragen, die sich jeder schon einmal in seinem Leben gestallt hat: Wer bin ich? Wo komme ich her? Ist mein Vater wirklich mein Vater? Warum ist alles so geschehen, wie es geschehen ist?
Je weiter man in der Lektüre voranschreitet, desto deutlicher wird, dass es sich bei Toolys Geschichte um einen Entführungsfall handeln muss, wobei lange Zeit nicht klar ist, wer hier die Fäden in der Hand hat und warum. Paul, Sarah, Venn, Humphrey sind die Hauptfiguren, die immer wieder in verschiedenen Konstellationen um Tooly herum auftreten. Wer hat welche Rolle? – D.h. Wer spielt welche Rolle? Oder spielt er/sie vielleicht nur eine Rolle oder ist er/sie wirklich der/die, der er/sie zu sein vorgibt?
Der Roman schafft es mühelos, dass man sich mit Tooly und/oder ihrem Schicksal identifiziert. Auf diese Weise begibt sich der Leser selbst auf die Suche nach seinen Wurzeln, auf die Suche nach der Wahrheit. Aber gibt es überhaupt DIE Wahrheit oder leben wir nicht vielmehr in einer Welt der vielen kleinen individuellen Wahrheiten? Jeder hat seine eigene Geschichte und seine eigene Deutung der Geschichte. So ist es letztlich auch in „Aufstieg und Fall großer Mächte“.
Tom Rachman ist Journalist und hat jahrelang erfolgreich für international renommierte Nachrichtenagenturen gearbeitet. Dies allein würde ihn nicht dazu prädestinieren, ein guter Schriftsteller zu sein, aber bereits in seinem Erstling „Die Unperfekten“ hat Rachman unter Beweis gestellt, dass er in der Lage ist, eine spannende fiktive Welt zu entwerfen und seine Protagonisten auch auf mehreren Handlungsebenen miteinander zu verknüpfen.
So ist auch der neue, in der hervorragenden Übersetzung von Bernhard Robben erscheinende Roman „Aufstieg und Fall großer Mächte“ (Originaltitel „The Rise and Fall of Great Powers“) eine spannende Geschichte, die man mit viel Vergnügen lesen kann. Die multiperspektivische Rekonstruktion des Lebens von Tooly Zylberberg ist gespickt mit vielen zeitgenössischen und ortsspezifischen Details, die bis in die 1980er zurückreichen und die präzisen Beschreibungen der Handlungsorte mit einer Authentizität versehen, die in der heutigen literarischen Landschaft selten geworden sind. Viele jener Details haben ihren Ursprung wohl auch in der eigenen Lebenserfahrung des Autors, der sein bewegtes Lebens selbst an vielen Orten verbracht hat.
Das moderne Nomadentum und die Suche nach der eigenen Identität sind für Tom Rachman charakteristische Merkmale unserer Gesellschaft. Wir werden immer mobiler, leben an verschiedenen Orten und suchen unsere Freunde nicht mehr in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern über das Internet. Wir leben ein komplexes und beschleunigtes Leben. Doch wer sind wir eigentlich, wenn wir bei aller Mobilität unsere Wurzeln verloren haben? Die Möglichkeiten der Gestaltung unserer eigenen Lebensgeschichte sind nahezu unbegrenzt geworden. Gleichzeitig steigen der Anspruch an uns selbst sowie die Erwartungen der Anderen. Früher sagte man: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“.
Heute hat diese Redewendung einen anderen, einen totalitären Klang bekommen. Wer heute nichts mehr aus sich macht und sein Leben einfach laufen lässt, wird es zu nichts bringen. Die Anwendung des Nutzenprinzips auf die Lebensstile und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche haben zu einem erbarmungslosen Konkurrenzverhalten geführt. Ausnahmen bestätigen diese Regel, und die sozialen Nischenexistenzen der urban villagers und der local communities machen umso deutlicher, wie kalt der soziale Wind in unserer postmodernen Welt weht.
Der Buchtitel „Aufstieg und Fall großer Mächte“ bezieht sich gleich auf mehrere Eben, wie Tom Rachman in seinem Interview mit kulturbuchtipps erklärt: „Zum einen bezieht sich das Bild vom Aufstieg und Fall auf die großen politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die ihren Aufstieg und Fall über einen langen Zeitraum vollziehen; dies bildet sozusagen den Hintergrund meiner Geschichte. Dann beschreibt es natürlich auch die persönlichen Auswirkungen der modernen Technologien auf unser Leben; all dies findet, wie gesagt, im Hintergrund statt; doch das eigentlich Interessante für mich sind die ganz individuellen Aufstiege und Fälle der einzelnen Charaktere meiner Geschichte. Hier haben wir zum einen den Aufstieg und Fall der physischen und mentalen Kräfte; ich wollte zeigen, wie wir als Kind eine nahezu unendliche Lebensspanne vor uns ausgebreitet finden, und wie dann mit dem Alter diese Spanne immer kürzer wird; wenn man die Mitte seines Lebens erreicht hat, wie Sie und ich, dann merkt man schon die Begrenzungen der eigenen Kräfte, wie Duncan in meiner Geschichte; im Alter verliert man dann nach und nach seine Kraft und steigt wieder hinab, das sehen wir natürlich bei Humphrey in meinem Roman. Und schließlich geht es auch um den Aufstieg und Fall von Einflussnahme durch Menschen und Ideen. In bestimmten Altersabschnitten ist dieser Einfluss sehr wichtig, und wenn man älter wird, wirken diese einstmals so wichtigen Ideen entweder trivial oder stellen sich sogar rückblickend als furchtbar irreführend heraus.“
Überhaupt nicht trivial entwickelt sich die komplexe und oftmals auch kontrovers verlaufende Geschichte von Tooly Zylberberg. Der Autor entfaltet ein buntes und vielschichtiges Tableau, wechselt virtuos zwischen den verschiedenen Zeitabschnitten und Ländern und lässt dabei keinen Moment die zentrale Fragen aus den Augen, die sich Tooly auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit stellt.
Mit diesem zweiten Roman bewahrheitet sich der Verdacht, den man schon nach der Lektüre von „Die Unperfekten“ hatte: dass hier ein Autor am Werke ist, der sein schriftstellerisches Handwerk meisterhaft beherrscht und auch vor komplexen Plots nicht zurückschreckt. „Aufstieg und Fall großer Mächte“ ist ein mitreißendes und faszinierendes Buch, weil es die Untiefen des modernen Lebens widerspiegelt und zeigt, wie man auch in diesen mobilen Zeiten seine eigene Identität nicht nur erfinden, sondern auch die wahren Wurzeln finden muss um sein Leben erfolgreich zu leben. Man muss es zumindest versuchen.
Lesen Sie auch das Interview zum Buch mit Tom Rachman auf der Frankfurter Buchmesse 2014!
Autor: Tom Rachman
Titel: „Aufstieg und Fall großer Mächte“
Gebundene Ausgabe: 496 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423280352
ISBN-13: 978-3423280358