Friedrich Christian Delius: „Die linke Hand des Papstes“

Friedrich Christian Delius: "Die linke Hand des Papstes"F.C. Delius beschäftigt sich in seiner neuen Novelle mit der Beobachtung der linken Hand des Papstes. Der Erzähler ist ein pensionierter Archäologe, der sich in Rom als Fremdenführer verdingt. Während einer kurzen Pause in einer protestantischen Kirche wird er aus dem Augenwinkel eines fremden Besuchers gewahr, der sich nicht nur durch seine Kleidung und sein Auftreten von den anderen Kirchgänger unterscheidet, sondern sich beim genaueren seitlichen Hingucken als der amtierende Papst der katholischen Kirche entpuppt. – Der Papst besucht eine protestantische Kirche? Zunächst ist sich der Erzähler unsicher, weiß nicht, ob er sich nur einem Tagtraum hingibt; doch je länger und genauer er die Hand des alten Mannes betrachtet, der nur wenige Meter rechts von ihm mit zwei Begleitern auf der Kirchenbank sitzt, desto offensichtlicher handelt es sich um den deutschen Papst Benedikt XVI..

Der Autor hat einen Bericht abgeliefert, wie er an mehreren Stellen im Text bemerkt. Literaturwissenschaftlich formuliert, liegt hier ein Gedankenbericht vor, ein „stream of consciousness“ des Ich-Erzählers, der sich seinen freien Assoziationen hingibt. So kommt er von den Händen des Papstes zu dem aktuellen Besuch des libyschen Diktators beim Mediendiktator Berlusconi. – Wir schreiben das Jahr 2011, in dem der eine Diktator noch lebt und einen Bürgerkrieg führt, während der andere noch sein Land mit Hilfe diverser Mafien ruiniert.

Gaddafis Staatsbesuch wurde begleitet von 30 Beduinen auf 30 arabischen Hengsten, mit denen er auf italienischem Boden ein Showprogramm inszenierte, das den Erzähler an die Bestechung der katholischen Kirche mit 80 numidischen Zuchthengsten durch den übereifrigen Moralapostel und Seitenwechsler Augustinus erinnerte, mit deren Hilfe er die Erbsünde zum Dogma erheben ließ und einen beispiellosen Paradigmenwechsel im Leitbild des katholischen Glaubens von der allseitigen Liebe Gottes zur Verstoßung und pränatalen Stigmatisierung der Gläubigen durch die Schuld der Erbsünde auslöste. Seitdem sind alle Menschen Sünder und können nur noch durch Buße, Fron und allein durch die Gnade Gottes zu dem werden, was sie vor Augustinus immer waren: bedingungslos von Gott geliebte Geschöpfe.

Während der „libysche Hurenbock“ für sein Showprogramm vor den Augen der geladenen Gäste und des korrupten Medienmoguls lediglich 30 Hengste tanzen ließ, kostete Augustinus die Durchsetzung seines menschenverachtenden Erbsünde-Programms noch 80 numidische Zuchthengste, die er dem Papst zum Geschenk machte. – Achtzig Hengste zum Preis der Erbsünde, der seit nunmehr über 1600 Jahren unzählige Generationen gläubiger Katholiken ihre Schuldgefühle, Komplexe und eine verkorkste Sexualität zu verdanken haben!

Von Augustinus geht es zurück zu dem libyschen Diktator, der ausgewählten kleinen Mädchen aus dem Koran vorliest um sie zu bekehren, während der Mediendiktator das gut heißt, weiter zu Papst Pius XII., der in ein Audienz halb offiziell Hitler als einen guten Führer bezeichnete und dank der deutschen Besatzer endlich die lästigen Juden los wird, weiter zu den mafiösen Strukturen, die sich nicht nur in Rom, sondern auch im Vatikan finden. Opus Dei, die schönen Statuen in der Parkanlage der Villa Borghese, die Zeit des Faschismus in Italien, eine alte Dame mit Hund, die an eine frühere Liebschaft erinnert… all das und vieles mehr verbindet sich in den Gedankensprüngen des Erzählers zu einem faszinierenden Netz, das neue Zusammenhänge und Analogien offenbart, die den Leser erstaunen.

Seine nicht zu bändigenden Assoziationen während des Gottesdienstes lassen den Archäologen in seiner genauen Beobachtung der päpstlichen Linken gedanklich in der Zeit vor und zurück springen, auch wenn er sich allein auf die Hand konzentieren möchte. Ein Archäologe sollte eigentlich in der Lage sein, sich nicht ablenken zu lassen. Er ist ein „neugieriger Scherbenputzer, Schichten- und Faltendeuter“. Und so deutet er jede Falte der päpstlichen Hand auf seine Weise, und jede Regung und Handbewegung des hohen Gastes lösen eine neue Flut von Assoziationen aus.

Immer wieder galoppieren die Hengste durch seinen Kopf und bringen die Assoziationen des Erzählers auf Trab. Der Leser erfährt eine Fülle von Neuigkeiten über die Machenschaften der katholischen Kirche. Es gibt da einige Fragen, die der Archäologe dem Kirchenoberhaupt gerne stellen würde, nicht um ihn zu provozieren, sondern allein um herauszufinden, ob die katholische Kirche sich ihrer eigenen Geschichte und ihrer oft sehr willkürlichen dogmatischen Kehrtwendungen – oder wissenschaftlich gesprochen ihrer Paradigmenwechsel bewusst ist.

Die Erfindung der Erbsünde und der Jungfrauengeburt durch Augustinus, die Erfindung des heiligen Benedikt usw. – Es gäbe eine Menge Gesprächsstoff für den Erzähler, wenn er nur seinen Sitznachbarn ansprechen und seine Andacht unterbrechen würde. Aber er macht es nicht. Vielmehr wird am Ende des Buches der alte Mann selbst zum Akteur. Der Erzähler wird Augenzeuge eines ungeheuren Vorfalls, der das Potenzial hat, die Kirchengeschichte radikal zu verändern. Also noch ein Paradigmenwechsel? Aber dieses Mal sind keine Kameras vor Ort, keine Blitze erhellen den Kirchraum, keine Mikrofone werden angeschaltet. Alles findet allein im schützenden Raum dieser kleinen und unbedeutenden protestantischen Kirche in Rom statt.

Nach etwa zehn Minuten ist alles vorbei. Der hohe Gast entschwindet in einer dunklen Limousine und lässt den Erzähler mit der Gewissheit zurück, zufällig und unvorbereitet einem historischen Moment beigewohnt zu haben. Davon wird er, davon muss er berichten! Er wird davon erzählen, wie er in einem protestantischen Gottesdienst die linke Hand des Papstes studierte und dabei von seinen Gedanken auf eine Reise geschickt wurde, auf der plötzlich alle Fragmente des römischen Lebens und seiner Geschichte einen Sinn machten.

„Die linke Hand des Papstes“ ist ein wunderbar leichtes Buch, das sich mit vielen schweren Themen befasst. Gleichzeitig malt es ein Stimmungsbild der römischen Verhältnisse. Niemals lässt sich Delius zu Plattitüden hinreißen, er bleibt immer der reservierte und gleichzeitig wütende Beobachter. Deswegen ist diese neue Novelle von F.C. Delius ein wichtiges und gelungenes Buch, eine schöne Geschichte, die man gelesen haben sollte.

 

Autor: Friedrich Christian Delius
Titel: „Die linke Hand des Papstes“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Rowohlt Berlin
ISBN-10: 3871347701
ISBN-13: 978-3871347702