Der spanische Philosoph Ortega y Gasset sagte einmal: „Das Heil der Demokratie … hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab, vom Wahlrecht.“ Setzt man dies als Maßstab, so ist es um die Demokratie in Deutschland nicht gut bestellt.
Von Arnim beschreibt in seinem neuen Buch „Volksparteien ohne Volk“ die Schieflage unserer parlamentarischen Demokratie im Superwahljahr 2009. In diesem Jahr finden bekanntlich auf sämtlichen Ebenen Wahlen statt: Bundespräsidentenwahl und Bundestagswahl, Kommunal- und Landtagswahlen und die Wahlen zum Europäischen Parlament.
Der Bürger hat also die Wahl. Scheinbar. Je mehr jedoch gewählt werden darf, desto weniger hat der Wähler den Ausgang der Wahlen in Wirklichkeit in der Hand. Es ist ein Paradox. Denn die Ergebnisse stehen schon fest. Das ist kein Witz, wie die seitenlangen Listen dieses provozierenden Buches zeigen.
Der Autor macht den Spielverderber wie einst Wolfgang Neuss, der kurz vor der letzten Folge des Durbridge-Krimi-Klassikers „Das Halstuch“ in einer Zeitungsannonce den Täter nannte und so der Fernsehnation die Stimmung vermieste. Von Arnim nimmt kein Blatt vor dem Mund und nennt Ross und Reiter:
Wer wird nach dem 27. September im Bundestag sitzen? Die 36 sicheren Bundestagswahlkreise der SPD, die 31 sicheren Wahlkreise der CDU und die 33 sicheren Wahlkreise der CSU lassen mit ihren Kandidaten ganz klar erkennen, wer künftig in Berlin regieren wird.
Die Wahlen sind eigentlich nur eine Pro-forma-Sache, und der Wähler darf sein Kreuzchen machen, um sich ein gutes Gefühl seines politischen Verantwortungsbewusstseins zu verschaffen. Es liegt vor allem an unserem Wahlrecht, das dem Wähler nur die Wahl einer Partei jedoch nicht die Direktwahl eines Abgeordneten erlaubt.
Was ist eigentlich der Sinn von Wahlen? Grundsätzlich erfüllen Wahlen zwei Funktionen: Das Volk soll seine Vertreter selbst auswählen und der Politik die große Richtung vorgeben. So weit, so schön. In Deutschland aber ist es um beides schlecht bestellt. Die Schlüsselentscheidungen treffen die Parteien selbst, und die Bürger werden um ihre fundamentalen Grundrechte gebracht.
Die Wahl zum kommenden Bundespräsidenten ist auch vor dem 23. Mai schon längst entschieden. Horst Köhler ist der Wunschkandidat von CDU, CSU und FDP. Die stimmliche Mehrheit ist dünn, aber Köhler wird im Amt bleiben. Dafür sorgen die Absprachen zwischen den Parteien. Die für eine Präsidentenwahl weltweit eigentlich nahe liegende Direktwahl durch das Volk wird von den Parteien nicht gewollt und findet keine Mehrheit.
Noch absurder geht es bei der Europawahl zu. Hier haben wir es gleich mit verschiedenen Wahlsystemen, mit Proporzzahlen und Sperrklauseln zu tun. Die Chancengleichheit aller Mitgliedsstaaten ist ein Wunschtraum, der durch die Realität der Europawahl ad absurdum geführt wird. Die Stimme eines Luxemburger Bürgers hat elfmal soviel Gewicht wie die Stimme eines deutschen Wählers. Und von der Direktwahl eines Europa-Abgeordneten durch die Wähler findet sich auch hier keine Spur. Der allergrößte Teil der künftigen deutschen Europa-Abgeordneten steht seit der Aufstellung der Wahllisten schon längst fest. – Sie finden sich auf den Seiten 318 bis 323 des Buches.
Immer wieder wird die Politikverdrossenheit der Bürger unseres Landes beklagt. Die Wahlbeteiligung ist in den verganegenen 25 Jahren immer weiter zurück gegangen. Wenn man die Fülle der Fakten dieses Buches zu einem Bild zusammen fasst, kann man verstehen, warum das so ist. Nicht erst die wirtschaftliche Krise hat das Ansehen der Politiker in Deutschland beschädigt. Korruption, Diäten-Erhöhungen, Klüngel und Realitätsferne sind nur einige Stichworte, die mit der „politischen Klasse“, wie sie von Arnim nennt, in Verbindung gebracht werden.
„Volksparteien ohne Volk“ macht in seiner politischen Brisanz aber noch etwas Anderes deutlich: Neben der Politikverdrossenheit macht sich auch immer mehr eine Parteien-Verdrossenheit bemerkbar. Der massive Schwund der Mitgliederzahlen aller Parteien macht dies deutlich. Immer weniger Bürger sehen ihre Interessen von den großen Parteien vertreten. Der große Erfolg der „Freien Wähler“ in Bayern veranschaulicht die Tendenz, den klassischen Parteien-Lagern den Rücken zu kehren und lieber sachbezogen zu diskutieren. Mehr Bürgernähe und größere Handlungsfähigkeit der Politiker wären eine wahre Frischzellenkur für die Demokratie.
Wenn nur Parteien zur Wahl stehen, deren politische Programme nicht nur in vielen Positionen austauschbar geworden sind, sondern auch noch in zukünftigen Koalitionen miteinander abgestimmt werden müssen, dann wäre die Möglichkeit der Direktwahl „meines Abgeordneten“ mit der Zweitstimme eine echte Demokratisierung unseres Wahlrechts. Andere Länder machen es vor und zeigen, dass es geht.
Der Autor geht jedoch nicht nur auf die problematischen Positionen bei den Kommunal- und Landtagswahlen, Europa-, Bundespräsidenten- und Bundestagswahl ein. Sein Buch ist ein Rundumschlag und muss der politischen Klasse in Deutschland als eine regelrechte Kriegserklärung vorkommen.
Nehmen wir nur die Missstände bei der Parteienfinanzierung und das Dilemma der Parteienstiftungen. Jede Partei hat eine oder mehrere Stiftungen, die sie finanziert und die bei der Verschiebung von Geldern in großem Ausmaß behilflich sind.
In einem anderen Abschnitt des Buches geht von Arnim auf die Gesetzeslücken im Abgeordnetenrecht ein, zeigt dem Leser, wie Abgeordnete sich „Schwarzgeld de luxe“ beschaffen können und dunkle Kanäle zur Parteienfinanzierung ausfindig machen.
Das ganze Buch ist durchzogen von haarsträubenden Fakten. Man könnte nur den Kopf schütteln und lachen, wenn es nicht im Grunde zum Weinen wäre. Der einstige deutsche Standortvorteil „Stabilität“ hat längst zur Unbeweglichkeit geführt. Die Politik hat sich abgekoppelt und führt ihr systemisches Eigenleben. Allein auf kommunaler Ebene hat sich „echte Demokratie“ erhalten und sogar ausgeweitet. Die Direktwahl der Bürgermeister, der Land- und Stadträte ist inzwischen selbstverständlich. Aber selbst diese Änderung des Wahlrechts konnte nur durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt werden.
Der Autor ist davon überzeugt, dass grundlegende Reformen unseres Wahlrechts auf allen Ebenen unerlässlich geworden sind. Bundespräsident, Ministerpräsident und Abgeordnete sollten den Bürgern nicht mehr vorgesetzt, sondern nach dem Vorbild von Bürgermeistern und Ratsmitgliedern unmittelbar vom Volk gewählt werden können. Die direkte Demokratie gehört neben der Kommunal- und Landesebene endlich auch auf die Bundesebene.
„Volksparteien ohne Volk“ ist ein provokantes und brisantes Buch. Es wird hoffentlich in diese ruhige und kontrahentenlose Frühphase des Bundestagswahlkampfes 2009 einschlagen wie eine Bombe und eine politische Diskussion in Deutschland anstoßen, die längst überfällig ist.
Dann wird sich hoffentlich zeigen: Die Deutschen sind keineswegs politikverdrossen sondern leiden nur unter einer massiven Parteien-Verdrossenheit. Dagegen könnte die Lektüre dieses Buches helfen. Auch zu diesem Zweck führt der Autor im Anhang des Buches 40 Stichworte zur Lage der Nation auf, die zur weiteren Diskussion einladen sollen.
Autor: Hans Herbert von Arnim
Titel: Volksparteien ohne Volk
Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
ISBN: 3570100111
EAN: 978-3570100110