„Die nackte Wahrheit und anderes – Aktfotografie um 1900“

„Die nackte Wahrheit und anderes – Aktfotografie um 1900“ Museum für Fotografie, Berlin: 03.05.-25.08.13

„Die nackte Wahrheit und anderes – Aktfotografie um 1900“ Museum für Fotografie, Berlin: 03.05.-25.08.13Abbildungen von nackten Menschen sind heute allgegenwärtig. Keinem fällt mehr auf, wenn viel nackte Haut zu sehen ist. Vor über 100 Jahren war  das ganz anders. Die Wilhelminische Zeit presste die Menschen in ein enges moralisches Korsett. Umso begehrter waren heimlich in Umlauf  gebrachte erotische und pornografische Fotos in der Kaiserzeit.

Die technische Entwicklung der Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu einer parallelen Intensivierung der Beschäftigung mit dem menschlichen Körper. Darunter fallen nicht nur die oben angesprochenen erotischen Fotografien. Die neuen Möglichkeiten der bildlichen Darstellung des menschlichen Körpers lösten einen Entwicklungsschub aus, der aus heutiger Sicht die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper als eine Antwort auf die Großstadterfahrungen der zeitgleich einsetzenden Moderne begreifen lässt.

Die Körperkulturbewegungen der Jahrhundertwende mit ihrer Abkehr vom Stadtleben und ihrer bewussten Hin- und Rückwendung zur Natur fanden ihren Ausdruck in zahlreichen Zeitschriften wie „Der Lichtfreund“ (1908), „Geschlecht und Gesellschaft“ (1906) oder „Die Schönheit“ (1903-1932), herausgegeben von Karl Vanselow. In ihnen paaren sich kulturessayistische und lyrische Texte, populärwissenschaftliche Beschreibungen und zahlreiche Abbildungen des menschlichen Körpers. Die Ästhetik jener Zeit schuf einen Katalog verbindlicher Körperhaltungen und Gesten, der in Malerei, Bildhauerei und auch in der Fotografie ihren Niederschlag fand.

Neben jenen Monatsschriften befassten sich umfangreichere Publikationen mit der „Schönheit des weiblichen Körpers“ (Carl Heinrich Stratz, 1898) oder auch mit der „Rassenschönheit des Weibes“ (1901). Stratz war von Hause aus Gynäkologe, aber seine populärwissenschaftlichen Bücher mit zahlreichen freizügigen Abbildungen wurden seinerzeit zu echten Bestsellern.

Das Stichwort Rasse weist den Weg in eine neue wissenschaftliche Disziplin der Zeit um 1900: die Anthropometrie. Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten des Anthropologen Gustav Theodor Fritsch machen deutlich, worum es den Wissenschaftlern jener Zeit ging: Die Vermessung des menschlichen Körpers sollte nicht nur die Verschiedenheit der menschlichen Rasse dokumentieren, sondern diente schon sehr früh als ein Beweismittel für die angebliche Überlegenheit der weißen Rasse über alle anderen. Die Rassenideologie war ein fester Bestandteil der Kolonialpolitik und bietet nur wenig später den Nährboden eines Antisemitismus, der sich wissenschaftlich zu legitimieren versucht.

Einen weiteren Schwerpunkt der von der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin kustodierten Ausstellung bilden die sexualwissenschaftlichen Schriften von Magnus Hirschfeld. Sie beschäftigen sich mit homoerotischen Sexualthemen und werden ergänzt durch eine Sammlung von ästhetischen Knabenfotos von Wilhelm von Gloeden.

Um 1900 veruschten viele Fotografen, die Bedeutung der Fotografie als Kunstform gegenüber den anderen bildenden Künsten zu behaupten, indem man besonders edle Materialien und besonders raffinierte Techniken verwendete. In der ästhetischen Darstellung orientierte sich diese Strömung der Piktorialisten eindeutig an den malerischen Vorbildern. Die Ausstellung zeigt einige schöne Beispiele der Künstlergruppe um das amerikanische Fotomagazin „Camera Work“, u.a. mit Arbeiten von Alfred Stieglitz und Edward Steichen.

Die erotischen und pornografischen Fotografien, wie sie in Deutschland um 1900 in zahlreichen Postkarten veröffentlicht und unter der Hand vertrieben wurden, riefen auch die Justiz und die Verfolgung durch die Polizei auf den Plan. Exemplarisch zeigt die Ausstellung einen umfangreichen Bildkatalog mit unsittlichen bildlichen Darstellungen, deren Verfolgung unter die Anwendung der so genannten „Lex Heinze“ fiel. Der Katalog sollte als Hilfsmittel bei der Polizeiarbeit dienen. Die vor allem als „Kuppelparagraph“ bekannte Lex Heinze bestimmte auch die Kriterien und die Auswahl jener unsittlichen Darstellungen; der Umfang der in diesem Katalog als „unsittlich“ und verfolgenswert gebrandmarkten Abbildungen ist ein anschauliches Beispiel für den stark kontrollierenden Einfluss der Gesetzgebung auf die bildenden Künste jener Zeit.

Die Ausstellung zur Aktfotografie um 1900 im Berliner Museum für Fotografie wird in gewohnt exzellenter Weise begleitet von ausführlichen Erläuterungen und bietet somit einen repräsentativen Querschnitt durch die frühen Jahre der fotografischen Darstellung nackter Tatsachen. Die Ausstellung gastiert vom 3. Mai bis zum 25. August 2013 und wird durch einen begleitenden Katalog ergänzt.