Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt: „Deutschland dritter Klasse“

Julia Friedrichs u.a.: "Deutschland dritter Klasse"Deutschland befindet sich in der tiefsten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik. Niemand weiß, wie sich die wirtschaftliche Gesamtlage entwickeln wird. Die Zahlen sehen nicht gut aus. Firmenpleiten und Privatinsolvenzen, Kurzarbeit und Arbeitsplatzverlust, dramatisch sinkende Kaufkraft und rigider Sparkurs der Privathaushalte – in Deutschland stagniert die Nachfrage, und nach dieser Phase der Deflation unserer Währung droht eine Inflation ungeahnten Ausmaßes.

All dies betrifft die Menschen, die in dem Buch der drei Autoren und Journalisten Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt beschrieben werden, so gut wie gar nicht. „Deutschland dritter Klasse“ ist ein Sozialreport der besonderen Art und zeigt Streiflichter des Lebens von Menschen aus der Unterschicht.

„Unterschicht“, dieses Wort war bislang politisch nicht korrekt und ausgrenzend, und doch bezeichnen sich die Mitglieder des „abgehängten Prekariats“, wie die Unterschicht vornehm-soziologisch genannt wird, oft selbst so. Wenn man unten angekommen ist oder vielleicht noch niemals in seinem Leben woanders war, dann braucht man kein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Dann kann man dazu stehen, dass man zur untersten Schicht der Gesellschaft gehört.

Das klingt fast schon wieder nach Stolz, wenn die Zugehörigkeit zu einer Schicht etwas ist, zu dem man stehen kann. Für die meisten Menschen aus dieser sozialen Schicht ist Stolz jedoch ein Begriff, der in ihrem Wortschatz nicht vorkommt. Die Mehrheit der Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, fühlen sich wertlos, sind entwertet durch die Umstände, in denen sie leben müssen.

Wir lernen die Webers kennen. Eine junge Familie, die in einer Wohnung fast ohne Möbel lebt. Wir lesen ihre Geschichte und tauchen ein in ihren Tagesablauf. Der Schreibstil dieses Buches lässt den Leser ganz nah heran an die Geschichte, manchmal sogar fast zu nah. Das soziale Klima in Deutschland ist rau, und die Dialoge in den Reportagen sind es auch.

Ein anderer Beitrag betrifft die Fröbel-Schule in Bochum-Wattenscheid vor. Der Rektor Christoph Graffweg hat den Lehrplan für seine Schüler der 8. Klasse umgestellt. Statt Algebra und Geometrie werden Aldi-Prospekte verteilt, und die Schüler trainieren das optimale Zusammenstellen eines preiswerten Frühstücks anhand der Sonderangebote. Graffweg hält nichts von den Lehrplänen und ihren theoretischen Inhalten; er will seine Schüler auf ein Leben mit Hartz IV vorbereiten.

Die Fröbel-Schüle ist das, was man früher eine Sonder- und heute als eine Förderschule bezeichnet. Graffweg ist Realist, denn selbst nach einem erfolgreichen Abschluss der Schullaufbahn wartet auf die allermeisten Schüler ein Leben mit Hartz IV; die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz ist auf einem mit besser Qualifizierten überfüllten Arbeitsmarkt sehr gering.

Während der Präsentation des Buches in Berlin erklärten die Autoren, dass das Buch durch die jahrelange Beschäftigung mit dem Thema Hartz IV entstanden ist. In Zusammenarbeit mit dem WDR entstanden im Laufe der Jahre eine Reihe von Sozialreportagen und Dokumentarfilme, die sich mit den sozialen Randgruppen am unteren Ende der Skala beschäftigten. Nun habe man, sozusagen als „Buch zum Film“ diese Reportagen zusammengefasst und unter dem Titel „Deutschland dritter Klasse“ bei Hoffmann & Campe herausgebracht.

Die Reportagen dieses Buches lassen den Leser nicht kalt. Sie ziehen ihn mit ihrer sachlichen und detailgenauen Schilderung der prekären Verhältnisse unweigerlich hinunter in das Milieu der Armut in Deutschland. Hier werden aus statistischen Zahlengrößen plötzlich Menschen, die wir kennen lernen und ihr Schicksal mit eigenen Augen sehen (müssen).

Wer wird jedoch und wer soll dieses Buch lesen? Werden die Neugier und die Schaulust stärker sein als das zu erwartende Gefühl der Mehrheit, sich „das nicht auch noch antun“ zu müssen? Ist es ein Buch für Sozialarbeiter und für Politiker, die lernen und verstehen sollten, wie diese Menschen leben und denken? Oder ist es ein Buch für die Bessergestellten, denen es noch gut geht, damit sie einmal sehen, wie gut es ihnen eigentlich noch geht? – So komisch es klingt, es ist wohl ein Buch für alle.

Denn dieses Buch hat das Zeug, zu einem wirklich aufrüttelnden und eine öffentliche Diskussion anzettelnden Bestseller zu werden. Es ist ein an die Substanz gehender Sozialreport, der in seiner anklagenden Brisanz durchaus an Wallraffsche Arbeitsweltreportagen erinnert.

Zum Beispiel die Geschichte von Heidemarie Danzer, die für eine Firma das „Essen auf Rädern“ ausfährt und dabei nicht etwa mit einem Stundenlohn bezahlt wird, sondern nach der Menge der ausgeteilten Essensportionen. Pro Essen bekommt sie 43 Cent. Ein- und Ausladezeiten, die Bearbeitung der Lieferformulare und Fahrzeiten werden natürlich nicht vergütet. Natürlich nicht, denn der Wettbewerb um den billigsten Lohnarbeiter tobt gerade hier in der untersten Etage des Gebäudes der deutschen Wirtschaft.

Wenn Rosemarie Danzer einen wirklich guten Tag hat und bei der halsbrecherischen Fahrt von einem Kunden zum nächsten keinen Unfall baut und keinen Strafzettel kassiert, dann kommt sie vielleicht auf einen Stundenlohn von ungefähr EUR 3,65. Wenn sie einen guten Tag hat. Dass bei solchen Summen nicht nur das Haushalten schwer fällt sondern auch die eigene Selbstachtung auf der Strecke bleibt, kann man gut verstehen.

Die Geschichten in diesem Buch sind exemplarisch und keine Einzelfälle. Um dies deutlich zu machen, haben die Autoren immer wieder kleine graue Schrifttafeln als Stopper in den Text gesetzt. In diesen Textblöcken werden Zahlen des Statistischen Bundesamtes und andere Forschungsergebnisse zusammengefasst. Die Zahlen und Fakten sind ernüchternd und geben Anlass zur Sorge:

  • 6,5 Millionen Menschen arbeiten bereits im Niedriglohnbereich. Das sind 22 Prozent aller Erwerbstätigen. In keinem anderen EU-Land sind es mehr als in Deutschland.
  • 42 Prozent aller Alleinerziehenden leben von Hartz IV.
  • Dreiviertel aller Deutschen glauben, dass uns der schlimmste Teil der Krise noch bevorsteht.

Man kennt die unsichtbare Macht sich selbst erfüllender Prophezeiungen. Wollen wir hoffen, dass die ausführliche Beschäftigung mit den Sorgen des „abgehängten Prekariats“ nicht zu einer Prekarisierung des Denkens führt. Wer sich immer nur Sorgen macht und Angst vor der Zukunft hat, der erstarrt in seiner Angst.

Es geht den hier portraitierten Menschen schon schlimm genug. Was sie am wenigsten brauchen, sind Menschen, die sich um sie Sorgen machen. Sie brauchen Lösungen und Hilfe. Sie brauchen Visionen, die auch ein Hoffen auf bessere Verhältnisse wieder realistisch erscheinen lassen. So gesehen, brauchen wir alle einen neuen Umgang mit den Grundelementen unserer Wirtschaft – mit Arbeit, Lohn, Geld und Besitz.

Vielleicht gibt dieses Buch einen ersten Anstoß für eine Grundlagendiskussion in unserem Land. Wie „Deutschland dritter Klasse“ zeigt, ist es dafür höchste Zeit.

Autor: Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt
Titel: „Deutschland dritter Klasse“
Broschiert: 220 Seiten
Verlag: Hoffmann und Campe
ISBN: 3455501125
EAN: 978-3455501124

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