Schaut man sich die arrangierten und sorgfältig komponierten Fotos dieses Buches an, etwa Eduard Steichens Portrait von Auguste Rodin oder die Landschafts- und Genre-Aufnahmen von Theodor und Oscar Hofmeister, so wird schnell deutlich, wie sehr sich die Kunstphotographie vor hundert Jahren noch den seit Jahrhunderten gültigen Kompositionsregeln der Malerei verpflichtet sah – und wie wenig eine eigene Bildsprache dieses jungen Mediums entwickelt war.
Es war, wie die Autoren im Vorwort betonen, eine „Welt von Amateuren“, die sich jedoch schnell neue Bildthemen eroberten, die durch die Malerei und andere Bildmedien nicht abgedeckt werden konnten. Dennoch blieb die piktoriale Gestaltung, die Kunstphotographie als ein der Malerei ebenbürtiges Kunstmedium vor allem in der Zeit um die Jahrhundertwende das qualitative Kriterium der Wahl. Die Photographie versuchte ihren Platz als Kunstmedium zu behaupten, indem sie die Malerei mit technischen Mitteln so gut wie möglich imitierte.
Der so genannte Piktorialismus, die Kunstphotographie um 1900, ist auch der Gegenstand des von Bernd Stiegler und Felix Thürlemann herausgegebenen Buches, das uns hier in einer hochwertigen Ausgabe des Wilhelm Fink-Verlags vorliegt. Er versammelt wichtige Texte zur Kunstphotographie um 1900.
Den Anfang macht die Hamburger Ausstellung von 1893, in der neben anderen Bildmedien erstmals auch künstlerische Photographien gezeigt wurde, die beim Publikum große Aufmerksamkeit erlangten. Der Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, setzt sich in dem ersten Beitrag dieses Buches mit dem Verhältnis des „Amateur-Photographen“ und der Natur auseinander.
Insgesamt umfasst der vorliegende Sammelband acht Abschnitte, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser internationalen photographischen Bewegung beschäftigen. Neben einem besonderen Fokus auf Wien und Hamburg wird auch die Internationalität der kunstphotographischen Bewegung sehr schön herausgestellt. Danach folgen einige Abschnitte, die sich vorwiegend mit den technischen Besonderheiten dieser Kunstrichtung beschäftigen. In einem letzten Abschnitt werden dann die zeitgenössische Kunstdebatte beleuchtet sowie die einzelnen Gattungen beschrieben, die besonders durch die Kunstphotographie berührt wurden.
Am Ende dieses außerordentlichen Buches steht ein Nachwort der beiden Herausgeber Bernd Stiegler und Felix Thürlemann.
Der Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Die Photographie gehört zu seinen Lieblingsthemen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu photographischen und medialen Themen tragen seinen Namen.
Sein Kollege Felix Thürlemann lehrt und forscht als Professor für Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte an der Uni Konstanz.
In ihrem Nachwort fassen die beiden noch einmal die wichtigsten Positionen zusammen und stellen dabei sehr schön die Einmaligkeit der künstlerischen und gesellschaftlichen Situation der Kunstphotographie um 1900 heraus. Das Ziel der Kunstphotographen war die akademische Nobilitierung, und ihre Arbeiten kennzeichnete neben dem künstlerischen Ausdruckswunsch auch immer der Kampf um künstlerische Anerkennung. Diese Frühphase photographischer Kunst wurde schon bald durch die Entdeckung einer eigenen photographischen Ästhetik überholt, und doch ist sie ein einzigartiges Dokument einer bewegten Zeit des Umbruchs – auch und gerade auf dem Gebiet der Kunst.
Autor: Bernd Stiegler, Felix Thürlemann (Hg.)
Titel: „Das subjektive Bild – Texte zur Kunstphotographie um 1900“
Broschiert: 441 Seiten
Verlag: Wilhelm Fink
ISBN-10: 3770552326
ISBN-13: 978-3770552320