Die Geschichte der Roseanne McNulty ist die Geschichte der „verlorenen Frauen“ Irlands. Im erzkatholischen Milieu des frühen 20. Jahrhunderts war die Scheidung einer Ehe unmöglich. Also entledigte „mann“ sich seiner Frau, indem man sie in eine psychiatrische Klinik einweisen ließ.
Diese Praxis erfolgte oft mit Unterstützung der Ärzte oder der katholischen Geistlichkeit. War eine Frau unfruchtbar, wies sie erbliche Krankheiten auf, hatte sie Ehebruch begangen, oder war der Mann ihrer einfach überdrüssig geworden, so löste man das Problem häufig auf diese Weise.
Roseanne McNulty, die Ich-Erzählerin des neuen Romans von Sebastian Barry, wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, weil ihre Schwiegereltern es für richtig hielten. Damit ihr Mann eine andere heiraten konnte, wurde ihre Ehe mit Hilfe des strengen Pfarrers Father Gaunt annulliert, ja mehr noch: sie wurde für nichtig erklärt, weil sie in einem Zustand „geistiger Verwirrung“ geschlossen worden sei.
Roseanne sitzt immer noch in einer Klinik und ist fast 100 – ihr genaues Alter weiß sie nicht -, als sie ihre „Selbstzeugnisse“, wie sie sie nennt, zu Papier bringt. Sie schreibt ihre Erinnerungen für einen unbekannten Leser auf. Vielleicht werden die Zettel auch von den Mäusen zerfressen, von denen es viele gibt in der alten Anstalt. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in Sligo, an ihre presbyterianische Familie und an ihren Vater, der als Friedhofsgärtner der kleinen Kapelle arbeitete.
Als Presbyterianer auf einem katholischen Friedhof arbeiten zu dürfen, ist im frühen 20. Jahrhundert in Irland keine Selbstverständlichkeit. Die bürgerkriegsartigen Unruhen und die blutigen Fehde zwischen Katholiken und Protestanten durchziehen die Gesellschaft und machen Freunde und friedvolle Nachbarn zu erbitterten Feinden.
An einem Abend ist die junge Roseanne mit ihrem Vater auf dem Friedhof, als plötzlich junge IRA-Kämpfer ihren kurz zuvor von den Soldaten der Gegenpartei getöteten Kameraden zur Kapelle bringen, um ihn in Ehren und nach katholischem Ritus begraben zu lassen. Roseanne wird geschickt, um Father Gaunt zu holen. Er soll dem toten Willie Lavalle seine Sünden vergeben.
Kurz danach stürmen die Soldaten des Freistaats in die kleine Kapelle, es kommt zu einem Blutbad, die jungen IRA-Kämpfer werden abgeführt, kurz danach erschossen, und nur einer von ihnen kann fliehen. Hatte Roseanne die Soldaten benachrichtigt?
Als die Unruhen zwischen Katholiken und Protestanten stärker werden, muss ihr Vater seine Arbeit auf dem Kirchhof aufgeben und wird zum städtischen Rattenfänger degradiert.
Roseanne heiratet Tom NcNulty. Doch die Ehe wird bald auf Drängen seiner Familie und mit tatkräftiger Unterstützung durch Father Gaunt gelöst. Roseanne wird gewaltsam von ihrer Familie getrennt und schließlich in die Anstalt eingewiesen. Auch ihre Mutter wurde ja in ein Asylum verbannt, und „Geisteskrankheiten treiben viele Blüten“, wie Father Gaunt bekräftigt. Im Fall ihrer Mutter führten sie zu einem extremen Rückzug in sich selbst, und bei Roseanne hätte die Geisteskrankheit zu einer „perniziösen, chronischen Nymphomanie“ geführt.
Abgeschoben, weggeschlossen, aus dem Verkehr gezogen. Dieses Schicksal teilte Roseanne McNulty mit unzähligen Frauen Irlands, die man auch die „verlorenen Frauen“ nannte.
Sebastian Barry knüpft mit seinem neuen Roman „Ein verborgenes Leben“ an „Die Zeitläufte des Eneas McNulty“ an, seinem 1999 erschienenen Roman über das Irland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Das Buch schildert das Leben der Roseanne aus zwei Perspektiven. Roseannes Selbstzeugnisse werden ergänzt durch die Aufzeichnungen ihres Psychiaters Dr. Grene. Er beschäftigt sich intensiv mit seiner ältesten Patientin und möchte Licht in das Dunkel bringen. Warum ist sie seinerzeit eingewiesen worden? Die wenigen Reste der uralten Unterlagen geben keinen Aufschluss und sind von Mäusen zerfressen.
So stellt er Nachforschungen an und sucht auf eigene Faust nach Anhaltspunkten für die wahre Geschichte Roseannes. Was Dr. Grene herausfindet, wirft ein ganz anderes Licht auf Roseannes Vergangenheit.
Der Autor verwendet eine sehr farbenreiche und bildliche Sprache, die auch durch die hervorragende Übersetzungsarbeit von Hans-Christian Oeser zum Leuchten gebracht wird. Es gelingt Barry, in Roseannes „Selbstzeugnissen“ das Bild einer alten Frau zu zeichnen, die trotz aller Gewalt, die man ihrem Leben angetan und deren Lebensweg man mehrfach durchkreuzt hat, sich eine lakonische Ruhe und Menschenfreundlichkeit bewahren konnte.
In ihren Erinnerungen geht die alte Frau völlig auf und schildert die vor vielen Jahrzehnten geschehenen Ereignisse mit einer Luzidität, die den Leser packt. Dass eine solch alte Frau über ein derartig klares Erinnerungsvermögen selbst an kleinste Details verfügt, wird durch ihre fast lebenslange Inhaftierung in die psychiatrische Anstalt plausibel und lässt die Figur der Roseanne noch authentischer wirken.
Auch ihr Arzt Dr. Grene ist fasziniert von der stillen und zurückhaltenden Art, die jene alte Patientin an den Tag legt. Er möchte gern mehr über sie erfahren und verstehen, warum sie vor vielen Jahrzehnten eingewiesen wurde. Die psychiatrische Klinik wird in Kürze umziehen, und er möchte herausfinden, ob Roseanne nicht entlassen werden könnte.
Sebastian Barry ist 1955 in Dublin geboren und hat dort Latein und Englisch am Trinity College unterrichtet. Er schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. Heute lebt er in Wicklow, einem kleinen Städtchen knapp 40 Kilometer südlich von Dublin.
„Die Zeitläufte des Eneas McNulty“ war sein erster Roman in deutscher Übersetzung. Er erschien bereits 1999 und ist vergriffen. „Ein verborgenes Leben“ wurde bereits für den Booker Price 2008 nominiert und erhielt den Costa Book of the Year Award 2008 und den Irish Book Award 2009.
Barry erzählt die Geschichte einer alten Frau. Eine Geschichte, die nicht nur zu Herzen geht, sondern die uns zeigt, wie schnell und ohne eigenes Zutun ganz normale Menschen ins Räderwerk der Geschichte geraten können und wie sich dadurch ihr Leben grundlegend verändern kann.
Autor: Sebastian Barry
Titel: „Ein verborgenes Leben“
Gebundene Ausgabe: 392 Seiten
Verlag: Steidl
ISBN-10: 3865219675
ISBN-13: 978-3865219671