Marcel Reich-Ranicki (Hg.): „Die besten deutschen Gedichte“

Marcel Reich-Ranicki (Hg.): „Die besten deutschen Gedichte“Wir leben in einer hektischen und ruhelosen Zeit. Wer dennoch nicht auf den Genuss von Literatur verzichten möchte, muss sich etwas einfallen lassen. Statt sich wie früher oft über Tage und Wochen in einen dicken Roman vertiefen zu können, ist man heute gezwungen, sich mit kürzeren literarischen Formen wie Erzählungen oder Kurzgeschichten zu begnügen. Und wenn die Zeit nicht einmal mehr zum Lesen einer Kurzgeschichte langt, so bleiben uns immer noch die Gedichte als eine der kürzesten literarische Formen.

Gedichte sind, wie der Name schon sagt, verdichtete, komprimierte Wirklichkeit. In manchem Gedicht sind wir in der Lage, die ganze Welt zu entdecken, und doch sind Gedichte meist kurz und schnell zu lesen. Diese Verdichtung des Lesestoffs und die Zuspitzung des Inhalts auf das Essenzielle machen Gedichte so faszinierend.

Wohl gemerkt, wir haben hier ausschließlich gute, ja hochwertige Gedichte im Sinn. Doch mit Marcel Reich-Ranicki haben wir einen Meister der sorgsamen Auswahl zur Seite, der uns in diesem kleinen Taschenbuch des Insel-Verlags „Die besten deutschen Gedichte“ präsentiert. Mit der Verwendung von Superlativen sollte man immer vorsichtig sein, vor allem aber im Bereich der Literatur. Wer darf hier den Kunstrichter spielen?

Wer darf den einen Autor bevorzugen und den anderen verwerfen? – Reich-Ranicki darf das, und er macht es auch in diesem Fall der Auswahl der schönsten deutschen Gedichte auf überzeugende Weise.

Die von ihm ausgewählten Gedichte entsprechen ganz jenem Spektrum, welches man von einem Kanon der deutschen Lyrik, der vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart reicht, erwartet: Vom ganz frühen „Du bist mîn“ und Walther von der Vogelweides Minneliedern über Klopstock und Claudius lesen wir ganz viel Goethe, ganz wenig Schiller, ein bisschen Hölderlin, Chamisso und Eichendorff, bevor wieder ganz viel Heine von Lenau, Hebbel und Forntane abgelöst wird, bevor das 19. Jahrhundert mit Keller und C.F. Meyer und Wilhelm Busch seinen Ausklang nimmt. Das 20. Jahrhundert lässt Ricarda, Stefan George und Else Lasker-Schüler auftreten, Morgenstern wird von einem Schwung Hofmannsthal gefolgt, bevor Rilke seinen großen Auftritt hat. – Hesse, Ringelnatz, Benn, Trakl, Lichtenstein, ja Klabund ist auch dabei; Tucholsky darf natürlich auch nicht fehlen, bevor ein langer Block mit Brecht-Gedichten und mit Kästner den Sprung in die Nachkriegszeit schafft. Günter Eich, Mascha Kaléko und Paul Celan, gefolgt von Ernst Jandl, Ingeborg Bachmann und Grass schlagen die Brücke zur DDR-Lyrik: Sarah Kirsch, Wolf Biermann und Volker Braun sind dabei, bevor wir so langsam in der Gegenwart angekommen sind mit Thomas Brasch, Ulla Hahn und Durs Grünbein.

Die Liste ist nicht vollständig, doch sie zeigt sehr schön Reich-Ranickis Vorlieben, die durchaus literaturgeschichtlich korrekt und in ihrer subjektiven Auswahl vertretbar sind.

Mit diesem über 300 Seiten starken Taschenbuch hat der Leser für günstige Euro 10,00 einen wirklich ausgezeichneten und repräsentativen Querschnitt über die deutsche Lyrik der letzten 800 Jahre. „Gedichte können die Zeit besser überstehen als die prächtigsten Tempel und Paläste“, behauptet Marcel Reich-Ranicki. – Recht hat er. Diese Sammlung funkelnder Edelsteine gehört auf jeden Nachttisch. Denn es gibt wohl kaum eine schönere Art, einen langen Tag zu beschließen, als mit einem schönen Gedicht.

Autor: Marcel Reich-Ranicki (Hg.)
Titel: „Die besten deutschen Gedichte“
Taschenbuch: 306 Seiten
Verlag: Insel Verlag
ISBN-10: 3458358862
ISBN-13: 978-3458358862