Kathrin Weßling hat ein Buch über ihre jahrelangen Depressionen und ihre klinische Therapie geschrieben. Wenn man das liest, möchte man als Rezensent am liebsten weglaufen. So etwas kann ja fürchterlich peinlich sein – larmoyant, weinerlich und selbst bezogen, bestenfalls anklagend oder nichts sagend. Kurz, man kann solch einen Text ganz schnell an die Wand fahren.
Deshalb schnell die gute Nachricht zuerst: Kathrin Weßlings Buch ist all das zum Glück nicht, sondern ein wirklich sehr schön geschriebenes und authentisches – ja, was eigentlich – Sachbuch oder Roman?
In unserem Interview mit Kathrin Weßling auf der Frankfurter Buchmesse 2012 ist sie sich selbst nicht ganz sicher, wie ihr Buch einzuordnen wäre. Natürlich erzählt sie eine Geschichte, die in Grundzügen ihre eigene Geschichte ist, jedoch natürlich fiktiv verändert und durch zusätzliche Handlungsstränge dramatisiert wurde. Gleichzeitig beschreibt „Drüberleben“ aber auch den realen Ablauf einer Therapie gegen „F.32.2“ (schwere Depressionen ohne psychotische Symptome), ist in diesem Sinne also auch Sachbuch. – Jedoch vor allem ist es ein gutes und packendes Buch, das den Leser gleich auf der ersten Seite an den Schultern packt und rüttelt und nicht mehr loslässt.
Authentizität erreicht man durch Offenheit und Leidenschaft. Es ist gerade diese Leidenschaft, die Weßlings Text zum Leuchten bringt. Die ungekünstelte Sprache springt mit ihrer Wut und ihrem Zorn geradewegs aus dem Buch in den Kopf des Lesers und lässt dort eine Welt entstehen, die widersprüchlicher kaum sein könnte.
Die hermetische Weltsicht der Depression mit ihrer bleiernen Schwere und den immer wiederkehrenden Selbstanklagen gehen beim Lesen nahe, lassen Vertrautes erkennen und die Schwermut der Ida Schaumann (die Hauptfigur des Romans) so real und hautnah erscheinen, dass man wie gebannt weiter liest.
Dabei zieht das Buch nicht runter – im Gegenteil: Kathrin Weßling schreibt seit einigen Jahren in einem eigenen Blog über ihre Erkrankung (dafür wurde sie zum „Bloggermädchen 2010“ gekürt), und die Rückmeldungen auf ihr Buch sind gerade von ebenfalls Betroffenen sehr positiv.
Depressive Leser fühlen sich von ihr nicht nur verstanden und richtig wieder gegeben. Viele haben durch die Lektüre von „Drüberleben“ gerade die furcht verloren, sich als depressiv zu outen und/oder in therapeutische Behandlung zu begeben.
Doch „Drüberleben“ darf nicht als Insider-Buch für Depressive missverstanden werden. Es ist ein bewegendes Dokument des Kampfes einer jungen Frau gegen ihre Depressionen und als solches ein Buch unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Schließlich leiden geschätzte vier bis sieben Millionen Deutsche an Depressionen. Die zahlen schwanken, die Dunkelziffer ist wohl noch deutlich höher. Wir leben in einer kranken Gesellschaft.
Aber was heißt eigentlich „krank“? Diese Frage stellt man sich schnell, wenn man in die Klinikwelt eingetaucht ist. Die Figuren der Handlung sind weder besonders auffällig noch schwierig, doch gerade dies trägt zur Authentizität des Buches bei. Depression ist nur eine graduell von anderen Gemütszuständen zu unterscheidende Erscheinung, die das eigene Handeln sinnlos und tonnenschwer oder gar unmöglich macht.
Es war für Kathrin Weßling die natürlichste Sache von der Welt, über ihre Depression zu schreiben. Schon als kleines Mädchen hat sie gern Geschichten erfunden und erzählt, später in kleine Schreibhefte geschrieben. Am Sujet der klinischen Therapie gefiel ihr vor allem das „Kammerspielhafte“, die Abgeschlossenheit des Sets und die Überschaubarkeit der handelnden Personen. Unwillkürlich assoziiert man Thomas Manns „Zauberberg“, mit dem sich „Drüberleben“ jedoch bei aller Gelungenheit nicht messen kann (und sicherlich auch niemals wollte).
„Drüberleben“ ist mit seinen 318 Seiten ein tolles Debüt, eine sprachlich gut und spannend geschriebene Geschichte und das authentische Zeitdokument einer jungen Frau, die sich ihren Frust und ihre Wut aus der Seele schreibt.
Das vollständige Interview mit Kathrin Weßling auf der Frankfurter Buchmesse 2012 können Sie hier lesen.
Autor: Kathrin Weßling
Titel: „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442312841
ISBN-13: 978-3442312849