Roland Oberstein ist Wissenschaftler. Die Forschung steht bei ihm an erster Stelle. Als Wirtschaftswissenschaftler interessiert er sich für die „Geschichte der Blasenbildung“, an der er seit langem schreibt. Daneben findet er durchaus auch die Untersuchung des Völkermords unter wirtschaftwissenschaftlichen Aspekten interessant. Seine Familie hat er der Wissenschaft geopfert.
„Was ist schon ein Privatleben, wenn man seine Studenten hat und seine Forschung.“ – O-Ton Roland Oberstein. Der Niederländer ist als Dozent auf die Universität von Fairfax berufen worden. Fairfax nahe Washington, ein kleines Kaff, das außer dem Campus nicht viel zu bieten hat. „Wenn das Leben eine Vorbereitung auf den Tod sein sollte, war ein Aufenthalt in Fairfax geradezu ideal.“ Noch einmal O-Ton Roland Oberstein.
Von solch lakonischen Sätzen wimmelt es in Arnon Grünbergs neuem Roman „Mit Haut und Haaren.“ Er erzählt die Geschichte Roland Obersteins, eines mittelalten Mannes aus dem gutbürgerlichen Milieu, der für seine Forschung lebt und dabei zwar seine Familie vernachlässigt und dennoch nicht ganz auf Liebschaften verzichten will.
Seine Ex-Frau Sylvie lebt mit dem Sohn Jonathan in Amsterdam, seine Freundin Violet ebenfalls. Doch er ist in den USA und kommuniziert nur per Handy, E-Mail und Skype mit ihnen. Auf einer Holocaust-Tagung in Frankfurt lernt er Lea kennen, eine Rudolf Höß-Forscherin und Holocaust-Expertin, eine unzufriedene, weil unbefriedigte Ehefrau des amtierenden Bezirksbürgermeisters von Brooklyn.
Irgendwie bekommt man den Eindruck, alle Charaktere dieses Romans haben Wichtigeres zu tun, als sie um ihre Familien und Beziehungen zu kümmern, wollen jedoch keinesfalls auf sexuelle Abenteuer verzichten. Da man sich interessant findet, ist es auch nur eine Frage der Zeit und der Möglichkeiten, bis Roland mit Lea eine Beziehung anfängt.
Jeder betrügt letztlich jeden: Lea betrügt ihren Mann Jason, der sie mit einem schwulen UPS-Boten betrügt. Roland betrügt nicht nur seine Ex-Frau Sylvie, sondern auch seine Freundin Violet, die ihn wiederum mit einem Satellitentelefon-Verkäufer namens Wytse betrügt. Als dann auch noch die junge Studentin Gwenny Roland verführt und die sexuellen Abenteuer auf Facebook stellt, ist Rolands Karriere in den USA beendet.
Das alles liest sich so banal wie im richtigen Leben. Das Leben ist meist nicht hübsch und spannend wie im Film. Letztlich betrügt jeder jeden und vor allem sich selbst. Die große Lüge vom erfüllten Leben, das Arbeit, Partnerschaft und aufregenden Sex als permanentes Spannungsverhältnis aufrecht zu erhalten vermag, wird in Arnon Grünbergs neuem Roman auf unspektakuläre Weise entlarvt.
Die Protagonisten stellen sich selbst ein Bein, sind unachtsam oder einfach nur müde. Bei Roland Oberstein schwingt aber noch eine andere, fast autistische Komponente mit. Er scheint auf seltsame Weise nicht zu Gefühlen fähig, handelt so, wie man doch handeln sollte, und betrachtet sich selbst wie den Akteur eines lebenslangen Theaterspiels.
Was er bei seinen Abenteuern empfindet? Nichts. Auch die Gefühle seines Gegenübers zu deuten, fällt ihm unendlich schwer. Er ist wie abgetrennt von seinen Empfindungen und den Empfindungen der Anderen.
Wie eine tickende Zeitbombe bewegt sich die Hauptfigur des Romans durch das Leben der anderen Protagonisten und richtet seine emotionalen Verwüstungen an. Erst die blutjunge Studentin Gwenny, die ihn wegen einer Wette verführt, hält Oberstein den Spiegel vor. Gegen Ende scheint er langsam wie aus einem langen Traum aufzuwachen. Ob der Neuanfang an andrem Ort gelingt, bleibt offen.
„Mit Haut und Haaren“ ist eine Geschichte unserer Zeit. Die Schauplätze Amsterdam und Fairfax, Frankfurt und New York sind die Kulisse für die Beschreibung eines hoch angesehenen Wissenschaftlers, der ein beruflich erfolgreiches, aber sinnentleertes Leben führt, der das Gefühl für seine Gefühle verloren hat und dadurch eine Menge Schaden in seinem sozialen Umfeld anrichtet.
Dass diese Geschichte eines Anti-Helden trotzdem spannend und lehrreich zu lesen ist, verdankt der Leser dem schriftstellerischen Talent Arnon Grünbergs, dem es immer wieder gelingt, Sympathien für seinen Protagonisten zu wecken und ihn nicht einseitig darzustellen.
680 Seiten sind eine Menge Stoff. Die Hälfte hätte vielleicht auch gereicht, aber die Komplexität des Romans und die Vielzahl von Erzählsträngen erforderten mehr Ausführlichkeit. Trotz des großen Umfangs wird einem „Mit Haut und Haaren“ niemals langweilig, sondern man wird durch seine Neugier immer weiter vorwärts getrieben, bis man am Ende angelangt ist. Dann fragt man sich, wie die Geschichte weitergeht.
Die Antwort muss jeder selbst finden.
Das vollständige Interview mit Arnon Grunberg auf der Leipziger Buchmesse 2012 finden Sie hier.
Autor: Arnon Grünberg
Titel: „Mit Haut und Haaren“
Gebundene Ausgabe: 682 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257068131
ISBN-13: 978-3257068139