Es gibt Leute, die führen ein Leben auf Pump. Sie schnorren sich durch und geben vor, jemand zu sein, der sie gar nicht sind. Und es gibt Leute, die sind fleißig, haben einen relativ gut bezahlten Job, manchmal sogar eine Arbeit, die sie ausfüllt, eine Familie, die gesund ist und zusammen hält – und trotzdem reicht das Geld nicht, um den Lebensstandard zu halten, den man aus seiner Jugendzeit und von den Eltern kannte.
Es ist die Generation der „Middle-Ager“, der jetzt 40- bis 60-jährigen aus der oberen und mittleren Mittelschicht, die in ihrer Jugend im Westen während einer beispiellosen Phase des Wohlstands aufgewachsen sind. Diese Generation ist damit aufgewachsen, dass es immer bergauf ging, dass Konjunktur ein natürlicher Zustand war und der persönliche Wohlstand nur von der eigenen Tüchtigkeit abhing. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche System war solide und von den Errungenschaften des Sozialstaats geprägt. Es war schon immer da. Nichts musste errungen, nichts verändert werden. Das einzige Ziel war die Verlängerung des Ist-Zustands in die Zukunft.
Kathrin Fischer ist Mitte vierzig und machte dieselben Erfahrungen. Sie arbeitete früher als Moderatorin und Redakteurin beim Hessischen Rundfunk und heute als Öffentlichkeitsreferentin der Universität Flensburg und würde sich als „eher gut verdienend“ bezeichnen. Und doch wohnt sie in ihrer Mietwohnung als allein erziehende Mutter mit ihrem Sohn auf einem Laminatfußboden. Warum nicht auf Parkett? Ganz einfach zu teuer.
Dabei erinnert sie sich noch sehr gut an ihre Jugendzeit. Damals schaffte es sogar ihr Englischlehrer ein gar nicht so kleines Häuschen zu besitzen und trotzdem noch genügend Geld übrig zu haben, um die Familie zu ernähren. Heute wäre das völlig utopisch.
Solche Erkenntnisse brachten Kathrin Fischer ins Grübeln. Was hat sich verändert? Warum geht es uns nicht besser als der Generation unserer Eltern? Früher galt es doch fast als eine Art Grundgesetz, dass es den Kindern materiell besser ging als den Eltern… Wir sind bestimmt nicht weniger fleißig als unsere Eltern, und doch können wir uns nicht denselben Lebensstandard leisten.
Natürlich wird alles immer teurer, aber das ist es nicht allein. Irgendetwas muss passiert sein, was unser Leben nicht mehr so weiter gehen lässt wie bisher. Warum müssen wir auf das Laminat als Schein zurück greifen und uns ein aus Holzabfällen und Kunststoffen zusammen gepapptes Zeug unter die Füße legen, das nicht ist, was es vorgibt zu sein. Steckt dahinter vielleicht sogar eine tiefere Wahrheit, die unsere Lebenseinstellung spiegelt? – Nicht sein, was man vorgibt zu sein, nicht mehr erreichen können, was man als erreichbar erwarten durfte?
Schon spricht man von einer „Laminatisierung der soliden Mitte“ unserer Gesellschaft. Die Angst vor dem Abstieg geht um. Wir Mittelschichtler der mittleren Jahre sind aufgewachsen in einem Milieu großer sozialer Sicherheit und eines permanent wachsenden Wohlstands. Das hat sich deutlich geändert.
Wenn jedoch auch weiterhin der Wohlstand (gemäß dem Bruttosozialprodukt) steigt, dieser Wohlstand aber nicht mehr bei uns ankommt, dann stimmt etwas nicht mit der Verteilung. Ganz schlicht ausgedrückt, kann man sagen: Die Zahlen belegen, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Der noch 1973 vom Soziologen Helmut Schelsky geprägte Begriff der „nivellierten Mittelschicht“ zur Beschreibung unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft ist längst nicht mehr gültig.
Besonders an den unteren Rändern der Mittelschicht bröckelt es gewaltig. Der Abstieg ist schnell geschehen, der Wiederaufstieg wird immer schwerer. Dabei versucht der Staat mit allen Mitteln, den Sozialstaat mit Staatsausgaben zu stützen. 143 Milliarden werden jährlich dafür aufgebracht, der größte Posten des Haushalts. Auch wenn dies schon eine gewaltige Summen ist: Noch viel mehr Geld wird investiert in die Rettung der Banken und des Euros, den wir angeblich alle so dringend brauchen. Die Zeche zahlen nicht nur wir, die Steuerzahler, sondern auch die nachfolgenden Generationen.
Eigentlich wissen alle, dass diese Entwicklungen nicht richtig sind, doch nur Wenige beginnen sich zu wehren. Das Sozialstaats-Modell der Bundesrepublik wurde längst zugunsten eines von Finanzinteressen beherrschten freikapitalistischen Systems aufgegeben. Die Globalisierung und Deregulierung der Märkte beschleunigten diesen Wandel und haben zu einem Wirtschaftssystem geführt, das ausschließlich von Kapitalinteressen bestimmt wird.
Für Arbeitnehmer und Konsumenten bleibt allein die Option der Anpassung und Unterwerfung unter die Gesetze des Freien Marktes. In dieser Folge haben wir mit steigenden Preisen und fallenden Löhnen, steigender Arbeitsbelastung und geringerem Arbeitsschutz, steigenden Krankenkassen- und Sozialabgaben bei sinkender Versorgungsqualität zu leben.
Nimmt man all diese simultan und in steter Beschleunigung verlaufenden Entwicklungstendenzen zusammen, so erhalten wir ein ziemlich klares Bild von der aktuellen Situation und können uns leicht ausrechnen, wo die Reise hingeht.
Der Soziologe Robert Castel, den Kathrin Fischer in ihrem Buch häufig zitiert, sieht diese Entwicklung mit Sorge: „Wir könnten unser Morgen verlieren.“ Wer nur noch an die Bewahrung seines eigenen Status’ denkt und versucht, seinen Arbeitsplatz und seine Position in der sozialen Rangordnung zu sichern, der handelt an erster Stelle egoistisch.
Die Krise führt zur „Entmoralisierung“ der Gesellschaft, wie es der Bielefelder Soziologie Wilhelm Heitmeyer nennt. Wenn jeder nur noch auf den eigenen Vorteil bedacht ist, entsolidarisiert sich die Gesellschaft und ist auf lange Sicht sogar in Gefahr, dem permanenten wirtschaftlichen Druck nicht mehr standzuhalten.
Wenn 1,7 Prozent der multinationalen Unternehmen rund 80 Prozent der Umsätze kontrollieren und wenn 75 Prozent dieser 1,7 Prozent auch noch zur Finanzindustrie gehören (Studie der ETH Zürich 2007), dann meint man schnell, den Verursacher für die Misere gefunden zu haben. Ja, die Finanzindustrie ist schuld! Aber sind diese Finanzexperten nicht nur die ausführenden Organe für das Millionenheer der Anleger? Geben wir ihnen nicht manchmal selbst das Geld für diese Investitionen, von denen wir uns eine bessere Sicherung unserer eigenen Altersvorsorge erhoffen? Sind wir selbst nicht auch Täter und nicht nur die Opfer dieser Entwicklung?
Kathrin Fischer gelingt es in ihrem Buch, die aktuellen Krisen durch ihre Vorgeschichte zu erklären. Sie weist aber gleichzeitig darauf hin, dass viele aus der Mittelschicht durch ihr Verhalten kräftig dazu beigetragen haben, dass es so weit gekommen ist. Wer sein Geld rein spekulativ in dubiose Derivate und fiese Finanzprodukte investiert, die auf globalisierten Finanzmärkten hin und her geswappt werden, um die Rendite zu maximieren, darf sich nicht beklagen, wenn sich die Welt um ihn herum verändert. All dies würde jedoch nicht funktionieren, wenn die Illusion der Freien Märkte nicht durch unsere Regierungen gestützt und geschützt würde.
Die drei Eckpfeiler unseres Wohlstands – Staat, Arbeit und Familie –sind am Erodieren. Seit den 1990er Jahren haben wir einen beispiellosen Abbau von staatlichen Reglementierungsmöglichkeiten gesehen. Gleichzeitig ist der bürokratische Aufwand zur Verwaltung von Arbeitslosigkeit und Steuerabgaben enorm gestiegen.
Die Arbeitswelt ist heute signifikant anders als noch vor zehn, geschweige denn vor zwanzig Jahren. Wir arbeiten mehr, bekommen dafür weniger und müssen noch mit höheren fiskalischen Belastungen rechnen. Das betrifft natürlich nicht alle Schichten im gleichen Maße. Wer sehr gut verdient, kann seinen Verdienst nach wie vor mit geschickter Bilanzierung am Fiskus vorbei manövrieren. Die Steuergerechtigkeit ist längst zu einer leeren Worthülse geworden.
Auch die Situation in den Familien hat sich stark verändert und ist in den letzten zwanzig Jahren kaum besser geworden. Die Belastung durch nötige Mehrarbeit, weil das Geld nicht mehr reicht, wirkt sich direkt auf die Lebensqualität der Familien aus. Zerbrechende Ehen und Familienbande werden durch lockere Sozialgefüge ersetzt, die eher Erwerbsgemeinschaften ähneln als unserem Wunschbild einer intakten Familie.
Es bröckelt, knirscht und kracht also an allen Ecken und Enden. Doch niemand weiß so recht, wer dafür verantwortlich ist, und vor allem, was zu tun wäre. Die Generation Laminat hat nämlich in ihrem Leben noch nie erfahren, dass die Gesellschaft kein fest stehendes Gebäude ist, das unveränderlich besteht. Doch man kann eine Gesellschaft durchaus verändern. Sie wird nicht nur durch staatliche Vorgaben verändert, sondern auch durch den aktiven Einsatz ihrer Bürger.
Die Generation Laminat ist für Umweltschutz und gegen Atomkraft auf die Straße gegangen, gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen Ausländerfeindlichkeit. Es waren aber immer äußere Bedrohungen, gegen die man demonstrierte. Doch die jetzige Schieflage verlangt nach einem anderen Verhalten, das ganz tief in den Mechanismus unserer Gesellschaft eingreift.
Das haben wir nie gelernt. Doch wer ist der Staat, wer ist die Gesellschaft? Die Summe aller Individuen eines Landes, und dazu gehört jeder Einzelne von uns. Dieses Bewusstsein, gekoppelt mit der allmählich wachsenden Erfahrung, dass Veränderung auch in kleinen Schritten möglich ist, muss erst einmal gemacht werden. Hierzu muss der Einzelne aktiv werden. Sein Verhalten ändern, heißt in vielen Fällen, überhaupt erst einmal eine Position zu beziehen und sich seines eigenen Standpunkts bewusst zu werden.
Nur von einer festen Position aus kann man aktiv werden und lässt sich nicht länger rumschubsen. Kathrin Fischer gibt in ihrem Buch ganz konkrete Anleitungen zum Widerstand. Widerstand ist ein großes Wort, doch es bringt auf den Punkt, worum es wirklich geht.
Zu lange haben wir uns angesehen, was mit uns, mit unserer Lebenssituation, mit unserem Geld gemacht wurde. Wir haben uns ins Private zurück gezogen, haben verschämt geschwiegen, als die Ausgaben immer weiter stiegen und das Geld immer knapper wurde. Wir haben den Mangel sogar zu einer neuen Bescheidenheit hochstilisiert, die uns gar nicht kaufen lassen wollte, was wir uns sowieso nicht hätten leisten können.
Doch nun ist Schluss. Die Anfänge sind bereits seit einiger Zeit gemacht. Der gesellschaftliche Widerstand formiert sich – in Attac, Occupy und Piratenpartei. In Bürgerinitiativen und kreativen Projekten, in Tauschkreisen und alternativen monetären Systemen auf regionaler Basis. Der Widerstand nimmt alle denkbaren Formen an – friedlich und gewalttätig, wirtschaftlich und sozial, im Netz und in der Nachbarschaft. Allen Initiativen gemein ist, dass sie mit dem bestehenden Zustand unzufrieden sind und nach alternativen Lösungen suchen.
Kathrin Fischer zeigt am Ende von „Generation Laminat“, wie jeder von uns seiner Passivität entkommen und aktiv werden kann. Sie hat einen Fünf-Punkte-Plan entwickelt, den jeder umsetzen kann. An erster Stelle steht die bewusste Wahrnehmung des Gefühls, dass man so, wie man lebt, nicht leben will. Dieses Gefühl muss man ernst nehmen, denn jeder von uns hat nur ein Leben. Der zweite Schritt ist die Beschaffung von Informationen. Man kann sich schlau machen, wie und wo man sich politisch und sozial engagieren kann, einzelne Bereiche seines Lebens verbessert und eine Veränderung in der Gesellschaft unterstützt.
Der dritte Schritt vollzieht den Wechsel in die Aktivität. Anders handeln und sich anders verhalten, als es die Norm verlangt, führt zu einem selbst bestimmten und wieder von den eigenen Überzeugungen getragenen Leben. Man spürt sich wieder, hat wieder Mut und Kraft, das Leben und sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Gerade dieser vermeintlich kleine Schritt aus der passiven Haltung kann für manchen sehr schwer sein. Aber es lohnt sich.
Zusammen mit Anderen kann man dann politische Forderungen entwickeln, die nicht nur das eigene Umfeld, sondern die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Das ist der vierte Schritt eines eigenverantwortlichen Handelns. Am Ende des Fünf-Punkte-Plans stehen schließlich das politische Handeln und das Engagement in einem politischen Rahmen. Es bleibt jedem frei gestellt, ob er sich in einer Partei organisiert, vielleicht auch eine neue gründet, die politische Arbeit auf die Nachbarschaft oder auf ein zentrales Thema beschränkt oder vielleicht auch außerparteilich aktiv wird.
Der Soziologe Harald Welzer hat für eine dezentrale und zum Teil auf den neuen sozialen Medien basierende Bürgerpolitik den Begriff der „APO 2.0“ geprägt. Eine Außerparteiliche Opposition, die sich im Social Net organisiert und agiert.
Kathrin Fischers Buch „Generation Laminat“ überwindet mühelos den Graben zwischen einem Lamento über die prekären sozialen Zustände und einem konkreten Aufruf zur politischen Aktion.
Zum ersten Mal wird in ihrem Buch speziell für die Wohlstands-Generation der 40- bis 60jährigen verständlich gezeigt, woher das ungute Bauchgefühl und die vermeintliche Ohnmacht gegenüber den schief liegenden gesellschaftlichen Verhältnissen kommen, die uns von einer Krise in die nächste stürzen lassen. Sie macht deutlich, dass sowohl unsere Gesellschaft als auch der Staat keine voraussetzungslosen und unverletzlichen Strukturen sind, sondern dass jeder von uns in der Lage ist, sowohl Staat als auch Gesellschaft aktiv mitzuprägen, zu verändern und in eine andere Richtung zu lenken.
Und genau das ist dringend notwendig: Eine Abkehr von den finanzkapitalistischen Freimärkte der Willkür und eine Rückwendung zu sozialmarktwirtschaftlichen Regelwerken, die auch gegen internationale Interessen und zum Wohle der Allgemeinheit wieder diskutiert und Schritt für Schritt re-implementiert werden müssen.
Der Staat ist nicht unser Feind. Wir sind der Staat. Der Feind ist der Systemfehler, durch den unsere Wirtschaft auf Hochtouren im Leerlauf arbeitet und unserem Sozialsystem die Energie raubt. Es ist an der Zeit, einen neuen Gang einzulegen und das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen. Wie das funktionieren könnte, zeigt Kathrin Fischers Buch.
Weitere interessante Einzelheiten hat Kathrin Fischer in unserem Gespräch auf der Leipziger Buchmesse verraten, das Sie hier lesen können.
Autor: Kathrin Fischer
Titel: “Generation Laminat – Mit uns beginnt der Abstieg – Und was wir dagegen tun müssen”
Broschiert: 288 Seiten
Verlag: Albrecht Knaus Verlag
ISBN-10: 3813504581
ISBN-13: 978-3813504583