Mithu M. Sanyal: „Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“

Mithu M. Sanyal: "Vulva"Der Publikumserfolg von Charlotte Roche’s Roman „Feuchtgebiete“ hat nicht nur die literarische Landschaft verändert; er nistet sich auch in den Köpfen ein und macht es möglich, dass der erste Gedanke beim Anblick des vorliegenden Buches von Mithu M. Sanyal ist: Feuchtgebiete.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Autorin und/oder der Verlag die Gunst der Stunde nutzen und auf der feuchten Popwelle mitsurfen möchte. Und in der Tat führt die Autorin gleich in der Einleitung die „Feuchtgebiete“ und die vor einigen Jahren am Theater so erfolgreichen „Vagina-Monologe“ als Indizien eines sich verändernden weiblichen Selbstbewusstseins und eines gesellschaftlichen Trends an, den es zu beachten gilt.

Eine Kulturgeschichte der Vulva also. Über Jahrtausende hat die patriarchalische Gesellschaft das weibliche Geschlecht (in doppeltem Sinne) unterdrückt. Die Herrschaft des Mannes über die Frau ging einher mit seiner kulturellen Dominanz, die bis in die öffentliche Rezeption der Geschlechtsorgane wirkte und bis heute wirkt. War auf der einen Seite der Penis, der Phallus, das Machtsymbol der männlichen Herr-schaft (sic!) schlechthin, so wurde die Vulva aus der Sicht des Mannes seit jeher als etwas Abwesendes, Fehlendes, Unvollkommenes definiert: Vulva = fehlendes Glied; Vagina = nach innen gestülpter Penis usw.

Die Vulva als „unbekannte Zone“ feuchter männlicher Träume. Die Vulva, das lebensspendende Wunder-Organ und das männerverschlingende Ungeheuer. Die Vulva, das als „Lustgrotte“ tabuisierte, degradierte und funktionalisierte Objekt männlicher Sexfantasien. Selbst in der Wahrnehmung der Frauen hat das eigene Geschlecht bis heute den (vom Mann eingeredeten) Makel des Unreinen und Unfertigen. So wurde frau erzogen; so gab sie es weiter an ihre Töchter.

Es ist gleichzeitig eine Tragödie wie auch ein Zeichen männlich-dominierter Kultur, dass das weibliche Geschlecht in Kunst, Kultur, Wissenschaft und auch im persönlichen Empfinden immer noch nicht den ihm gebührenden, gleichberechtigten Platz eingenommen hat – neben allen phallokratischen Manifestationen des Abendlandes: Bildlich-lyrisch gesprochen, müssen endlich die hoch aufstrebenden Säulen und Macht demonstrierenden Türme unserer Welt auch die sich öffnenden Türen und Tore erhalten, die warmen und behaglichen Räume, die Heimat verheißen und Geborgenheit geben.

Mithu M. Sanyals Buch liest sich flüssig und ist wegen der Fülle der Informationen gleichzeitig eine lehrreiche und unterhaltsame Lektüre. Ihr Schreibstil weist allerdings einige Manierismen auf, die den Lesespaß an manchen Stellen mindern. So schreibt die Autorin zum Beispiel konsequent „in: Diesem Buch“, ohne diese Schrulle zu erklären. Salbungsvoll wird auch stets vom „weiblichen Genitale“ gesprochen. Das klingt nicht nur oberlehrerhaft, sondern ist nach neuer deutscher Rechtschreibung schlichtweg ein falsch gebildeter (oder zumindest veralterter) Dativ, der „dem weiblichen Genital“ wohl mehr Bedeutungsschwere geben soll. Solche Spielchen hat der Text gar nicht nötig. Es wäre schön gewesen, wenn der/die LektorIn hier zum Wohle des Lesers etwas beherzter eingegriffen hätte.

Wahrscheinlich liegt es in der Natur der Sache, dass die Beschäftigung mit solch einem Stoff die Autorin in ihrem Denken und Schreiben stark beeinflusst. So bleibt bei der Lektüre das Gefühl nicht aus, dass das monatelange (vielleicht sogar jahrelange?) Kreisen um die mythischen, geschichtlichen und soziologischen Aspekte der Vulva-Kulturen bei der Autorin zu einem gewissen „Tunnelblick“ geführt hat. Dies kann Mithu M. Sanyal jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden. Schon im zweiten Kapitel des Buches befreit sie sich von dieser leicht egozentriert wirkenden Sichtweise und springt von da an fröhlich hin und her zwischen Baubo-Kult und japanischen Striptease-Tänzerinnen, zwischen Salomés Schleiertanz und Anne Sprinkle’s öffentlichen Spekulum-Aktionen.

Mithu M. Sanyla war fleißig. Die Bibliographie erstreckt sich über acht Seiten, und der Anhang besteht aus über 400 Anmerkungen und Querverweisen. Die „Kulturgeschichte der Vulva“ ist also gleichzeitig eine wissenschaftliche Abhandlung wie auch eine spannende Lektüre für den interessierten Laien.

Ist das denn alles so wichtig, könnte die LeserIn fragen? Haben wir nach vielen Jahren des weiblichen Befreiungskampfes in unserer heutigen post-feministischen und pop-feministischen Gesellschaft nicht alles erreicht? – Vielleicht wird gerade dieses Buch zeigen, wie weit wir heute wirklich sind und wie ernst wir die Gleichberechtigung von Frau und Mann in unserer Gesellschaft nehmen.

Wenn die „Kulturgeschichte der Vulva“ nicht nur auf ein müdes Lächeln stößt, sondern wirklich gelesen und verstanden wird – und das von Frauen UND Männern. Dann ist die „Phallokratie des Patriarchats“ endlich an ihre Grenzen gestoßen; dann fällt endlich auch die letzte und vielleicht schwerste Bastion männlichen Denkens: die Ignoranz. Die Ignoranz gegenüber dem weiblichen Geschlecht, die Unkenntnis und die fehlende Wahrnehmung der in unserer abendländischen Kultur verwurzelten Unterdrückung weiblicher Symbolik und Kraft, ja der Unterdrückung des Weiblichen schlechthin.

So betrachtet kann die „Kulturgeschichte der Vulva“ von Mithu M. Sanyal ein weiterer wichtiger Baustein zur Umgestaltung unserer Gesellschaft werden auf dem Weg in eine diskursfreudige, offene Gesellschaft unter dem Zeichen des Gender Mainstreamings.

Titel: Vulva: Die Enthüllung des ‚unsichtbaren Geschlechts‘
Autor: Mithu M. Sanyal
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
Verlag: Wagenbach
ISBN: 3803136296
EAN: 978-3803136299

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