Es begann mit der Glorreichen Revolution in England 1689, setzte sich fort in radikaler Auslegung durch französische Gelehrte bis zur Französischen Revolution 1789 und wurde von den deutschen Philosophen zwar weniger politisch, weniger kirchen- und staatskritisch, dafür mit einer umso stärkeren Betonung des individuellen Lebensglücks und der Freiheit des eigenen Verstandes verknüpft. Die Rede ist von der Aufklärung, dem Enlightenment, Illuminismo oder den Lumière philosophiques.
Schon Immanuel Kant bemerkte 1784, dass wir uns zwar in einem „Zeitalter der Aufklärung“ befänden, jedoch noch längst nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist auch heute nach über 300 Jahren Aufklärung noch keine selbstverständliche und überall auf der Welt praktizierte Geisteshaltung.
Aufklärung ist ein unabgeschlossener, kultureller Entwicklungsprozess, ein Projekt, an dem heute noch so fleißig gearbeitet werden muss wie in der Vergangenheit. Gerade die Zeit nach 9/11 und der dadurch ausgelöste Big bang des Fundamentalismus auf allen Seiten hat zu einem Erwartungsdruck in Sachen „common sense“ und zu einer Geisteshaltung geführt, die alles andere als frei und unabhängig genannt werden muss.
Die westliche Welt befindet sich im Kulturkampf und im physischen Krieg mit den fundamentalistischen und glaubenszentrierten Kräften der islamischen Welt. Nach den Kriegen im Irak und den durch die Arabellionen ausgelösten Umwälzungsprozessen in den Ländern rund ums Mittelmeer befindet sich der Westen in einer kurzen Verschnaufpause, bevor der Kampf im Iran und anderen Ländern der Golf-Region fortgeführt werden.
Neben all den Gräueln, die Krieg und Terror mit sich bringen, erschreckt vor allem die Tatsache, dass der Westen der islamistisch-aggressiven Haltung des vermeintlich rückständigen Kulturraums des Orients seinerseits auch nur mit einer fundamentalistischen und nicht von aufklärerischen Freiheitsgedanken geprägten Geisteshaltung entgegen tritt. Anstatt die fundamentale Kraft der Freiheit des eigenen Verstandes zu nutzen, wird lediglich der halbherzige Versuch unternommen, das westliche Demokratiemodell in jene Länder zu exportieren, die sich dem Westen gegenüber aggressiv verhalten.
Was vor 300 Jahren begann, das freiheitliche Projekt und der Versuch, der menschlichen Vernunft und dem natürlichen Streben nach Wissen und Erkenntnis mehr Licht, mehr Raum zu geben und den durch Dogmen und Verbote verdüsterten Himmel wieder aufzuklären, ist längst keine abgeschlossene Erfolgsstory aus der Geschichte der philosophischen Schulen. Vielmehr finden wir die alten Streitpositionen der Aufklärung auch ganz aktuell in den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen unserer Tage. Ob es um Stammzellen-Forschung oder um Friedensbemühungen, um den Ausstieg aus der Atompolitik oder um die Frage nach einer Beteiligung deutscher Truppen am Afghanistan-Einsatz geht: Immer sind ganz zentrale Fragen unseres Kultur- und Moralsystems betroffen, immer geht es auch im Einzelnen schnell ums Ganze, ums Grundsätzliche, und so kommen wir immer wieder ganz schnell mit den Forderungen der Aufklärung in Berührung und müssen unsere heutigen Entscheidungen auch an diesen Maßstäben messen, die bereits in den letzten 300 Jahren gültig waren.
Doch Aufklärung ist nicht nur ein Forderungskatalog für ein freies, unabhängiges und nur dem eigenen gewissen verantwortliches Denken. Wir müssen die Aufklärung auch als eine Bewegung verstehen, als einen geschichtlichen Prozess, den Historiker untersuchen und in schlauen Büchern wie dem vorliegenden dokumentieren können.
Manfred Geier ist eigentlich Sprach- und Literaturwissenschaftler, aber er hat nicht erst mit seinem neuen Buch „Aufklärung – Ein europäisches Projekt“ bewiesen, dass er nicht nur gut und interessant schreiben kann, sondern als Autor und Publizist auch einen starken Hang zu geschichtlichen und philosophischen Themen hat. Seine hervorragenden Bücher über Immanuel Kant, die Brüder Humboldt, Karl Popper, Martin Heidegger oder den Wiener Kreis zeigen dies auf eindrückliche Weise.
Nun also ein Sachbuch über die Aufklärung. Ein „europäisches Projekt“ nennt Manfred Geier dieses Phänomen und zeigt konzis, wie die Idee der Aufklärung des menschlichen Geistes zunächst in England entstand, wie John Locke und Shaftesbury zwei verschiedene Facetten der aufklärerischen Grundhaltung entwickelten und vertraten, die Einhaltung der Menschenrechte, die Fähigkeit des Selbstdenkens und der Toleranz sowie die Zurückdrängung der Macht der Kirche und der Verblendung durch einen fanatischen Glauben.
Die Englische Revolution 1689 setzte gesellschaftliche Umwälzungen in Gang und verhalf auch den Gedanken der Aufklärung zu stärkerem Gewicht. Der Zuwachs an Freiheit im gesellschaftlichen Klima strahlte auch auf den menschlichen Geist aus. Diese positive und freiheitliche Ausstrahlung zog auch Philosophen und andere Freidenker aus dem Ausland an.
Voltaire lernte in England frei zu denken. Er trug diese Geisteshaltung zurück nach Frankreich und befruchtete durch seine Gedanken und Schriften den Geist der Aufklärung in seinem Heimatland. Rousseau schrieb seinen Gesellschaftsvertrag, und Diderot begann mit der Niederschrift seiner Enzyklopädie, die nicht nur das Wissen der Menschen seines Kulturkreises stark vergrößerte, sondern auch gleichzeitig das Ansehen der Wissenschaften gegenüber der Kirche stärkte und die Menschen seiner Zeit von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ihres Denkens befreite.
In Deutschland ist es vor allem Immanuel Kant gewesen, der sich den Gedanken der Aufklärung verbunden fühlte und durch seine Schriften sehr zu ihrer Verbreitung beitrug: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Wir kennen diese kurze und leicht verständliche Definition des Aufklärungsbegriffs.
Manfred Geier bezeichnet die Aufklärung zu Recht als ein europäisches Projekt, als ein Mahl, an dem viele Köche mitgewirkt haben. Gleichfalls zeigt der Autor in seinem sehr gut recherchierten und angenehm flüssig geschriebenen Buch, dass das Projekt der Aufklärung ganz und gar nicht beendet ist. Vielmehr stecken wir gerade heute wieder mitten in den Diskussionen, die auch schon unsere Vorfahren beschäftigten, wenn sie sich fragten, ob die Aufklärung an sich überhaupt wünschenswert sei oder ob man den freien Geist wirklich so bedingungslos benutzen dürfe, wie es sich die Verfechter einer reinen Aufklärungslehre vorgestellt hatten.
Es steckt ein seltsamer Widerspruch in den Erkenntnis, dass das „Dogma“ der Aufklärung eben genau darin bestehen könnte, keine Dogmen mehr gelten zu lassen. Die bedingungslose Freiheit und Unabhängigkeit des menschlichen Verstandes, jenes „Die Gedanken sind frei“ auf der Suche nach Erkenntnis und das Zerreißen aller gesellschaftlichen und moralischen Fesseln sind unabdingbare Voraussetzungen für eine aufklärerische Geisteshaltung, aber gleichzeitig sind sie dogmatisch in ihrer Bedingungslosigkeit.
Im zweiten Teil des Buches „Aufklärung – Das europäisches Projekt“ befinden wir uns auch folgerichtig in unserer Jetzt-Zeit und der Zeit des kriegerischen 20. Jahrhunderts, wenn Manfred Geier die Philosophen Karl Popper und Hannah Ahrendt als späte Kantianer beschreibt und den Irak-Krieg mit den Augen Kants betrachtet.
Schließlich ehrt und widmet sich der Autor der jungen Französin Olympe de Gouges, einer jungen Frau, die ihren leiblichen Vater anklagte, sich für die Rechte unehelicher Kinder und ihrer Mütter einsetzte und dafür letztlich guillotiniert wurde. Sie setzte sich auch für die Rechte der Sklaven ein und forderte, dass jeder – auch Frauen – frei geboren sein müsse. So gelangte sie schnell ins Räderwerk der Politik. Als sie dann noch den Geist der Aufklärung jeder Frau als „Stärkungsmittel“ empfahl, war das Maß voll. Die Erkenntnis, das Bekenntnis und die Forderung, dass auch das schwache Geschlecht ebenso wie der Mann einen freien Geist haben dürfe und solle, war dann doch zu viel für die französischen Revolutionäre. Der freie Kopf landete kurzerhand im Korb unter dem Schafott.
Geiers Buch schließt mit einem Abschnitt über Wilhelm von Humboldt und seinen Beitrag zu einer Bildungsreform in den deutschen Landen. Die Gründung der gleichnamigen Universität zu Berlin und das wissenschaftliche Werk Humboldts waren beeindruckende Zeugnisse für die Möglichkeiten, die ein freier Geist der Aufklärung für die Entwicklung von Gesellschaft, Wissenschaften und Politik entwickeln kann.
Solche Leute, Universalgelehrte wie Individualisten, Unangepasste wie Vordenker sind heute selten geworden. Oft drücken die scheinbar freien, jedoch oft von handfesten wirtschaftlichen Interessen beherrschten Verhältnisse in unserer Gesellschaft den Freigeistern schnell wieder die Luft ab und lassen die zarten Pflänzchen der Kreativität und des unabhängigen Selbstdenkens nur schwer gedeihen.
Es ist nicht wirklich dunkel in Deutschland, in Europa und den westlichen Demokratien. Aber wir sind auch nach 300 Jahren immer noch weit entfernt vom strahlenden Licht eines wirklich aufgeklärten Kulturraums.
Autor: Manfred Geier
Titel: „Aufklärung – Das europäische Projekt“
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 349802518X
ISBN-13: 978-3498025182