Dieser Aufstand hat nicht stattgefunden. In einer kargen Sprache beschreibt der Erzähler ein Aufbegehren gegen die Umwälzungen der Nachwendezeit auf dem Boden der ehemaligen DDR. Die großen Bergbau-Kombinate, darunter auch die von Bitterrode und Mansfeld, werden von der mächtigen Kali und Salz AG aus dem Westen bedroht Treuhand abgewickelt.
Die Menschen kommen mit dem Kapitalismus in Berührung und erleben die vollständige Umwertung ihrer bisherigen Welt. Waren Sie nicht die Eigentümer dieser Werke? Waren es nicht ihre eigenen Produktionsmittel, mit denen sie arbeiteten? War das nicht ihre Arbeit, die sie für das Volk machten und die sie gut machten?
Es ist die Sprache des Bergbaus, die dieser Erzählung eine seltsame Sprödigkeit und Wahrhaftigkeit verleiht und die nicht nur als Sinnbild für die Umwälzungen nach der Wende fungiert, sondern auch die Sprache derer ist, die da aufbegehren und den Aufstand proben.
So ist vom Abraum die Rede, vom Berg, der durchbohrt und abgetragen wird, von den Schätzen, die aus der Verborgenheit im Berg befreit und hervor geholt werden, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Es ist vom guten Salz die Rede, das man in Bitterrode und Mansfeld fördert, das Salz der Erde, das in er Lage ist, das Laue der Gesellschaft zu würzen, sich den neuen zerstörerischen Einflüssen zu widersetzen und gegen die Enteignung aufzubegehren.
Es sind einfache Menschen, die die neuen Regeln nicht verstehen, die ihnen von außen aufgezwungen werden. Ihr Salz ist doch gut, warum schließt man dann das Bergwerk? Warum werden wir abgewickelt und mit welchem Recht? Waren wir nicht die Herren in unserem Werk, wenn nicht die Eigentümer, so doch seine Betreiber?
Der Aufstand gegen die Treuhand und ihre Granden wird zum Aufbegehren gegen die neue Wirklichkeit. Die Umwertung aller Werte mache man nicht mit. Die Bitterröder nicht und auch nicht die Mansfelder. Gemeinsam geht man in den Streik und gemeinsam zieht man nach Berlin. Man drängt die Zeitungen zur Veröffentlichung der „Mansfelder Artikel“, die die Forderungen klar machen sollen. Doch man scheut sich, sie „Artikel“ zu nennen, aus Angst, man könne die Forderungen für Waren halten, die man käuflich erwerben könne. Denn alles ist käuflich in dem neuen Land, die Waren wie die Menschen, und von diesem Denken geht das Böse aus, das sie jetzt bedroht.
„Die hellen Haufen“ liest sich wie ein Stück vergangener deutscher Geschichte. Es erzählt von einem Aufstand, wie es ihn gegeben haben könnte, ja müsste, doch die Wende hat keine Revolution gebracht, das westliche Wirtschafts- und Werte-System wurde widerstandslos angenommen oder besser: hingenommen.
Doch in dieser Erzählung begehren die Arbeiter auf und widersetzen sich dem Diktat der Treuhändler, die den Staat verzocken und seine Menschen wie schlechte Ware behandeln. Ausverkauf und Abräumer-Mentalität bestimmen über das Leben der sechzehn Millionen. Der Widerstand ist entschlossen, aber friedlich. „Keine Gewalt“ ist die Parole, die über allem Protest steht. Doch das Ende ist gewaltsam und blutig. Der neue Staat lässt sich nicht auf Diskussionen ein, sondern wählt eine ökonomische Lösung für das Problem.
Volker Braun erzählt in seinem neuen Buch die fiktive Geschichte einer Arbeiterschaft in Sachsen-Anhalt. Die Beschreibungen sind karg und trocken wie die schwarzbraune Erde des Tagebaus um Bitterrode. Dieses Land war schon immer von Kämpfen zwischen Oben und Unten gezeichnet. So vermischen sich die aktuellen Berichte immer wieder mit Passagen aus den Bauerkriegen des 13. Jahrhunderts und den Arbeiterkämpfen der KPD in Mitteldeutschland unter Max Hölz in den frühen 1920er Jahren.
Volker Braun selbst ist Jahrgang 1939. Er arbeitete nach dem Abitur zunächst einige Jahre im Bergbau und Tiefbau, bevor er in Leipzig Philosophie studierte. Seine ersten schriftstellerischen Arbeiten veröffentlichte er in den 1960er Jahren. Volker Braun war überzeugter Sozialist und wollte als Arbeiter-Schriftsteller am Aufbau des Sozialismus in der DDR mitwirken. Er war, was man in der DDR als „Arbeiterdichter“ bezeichnete: ein Schriftsteller, der das Sujet der Arbeit und das Leben der Arbeiter fokussierte und damit das Leben im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ in eine literarische Form goss.
Das Interesse des Autors hat sich nicht wesentlich geändert, auch „Die hellen Haufen“ spielen in der Welt der Arbeiter und der Schwächeren. Somit könnte man Volker Braun auch heute noch einen Arbeiter-Dichter nennen – oder vielleicht besser: einen Dichter der Arbeit -, obwohl diese Bezeichnung in der heutigen Zeit eher einer Brandmarkung als einer Auszeichnung gleichkäme. Doch die Welt der Arbeit ist und bleibt das Sujet Volker Brauns.
Die neue Erzählung Volker Brauns schließt eine seit vielen Jahren klaffende Lücke in der deutschen Literatur. Endlich werden das verbrecherische Handeln der Treuhand und die Ohnmacht der Arbeiter im Osten in einer Fiktion thematisiert, die gedanklich mit den Möglichkeiten der Geschichte spielt. Geschichte ist nicht nur das, was stattgefunden hat, sondern immer auch das, was nicht stattgefunden hat. Wir sehen immer nur einen Teil des Ganzen und einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Auch das Andere, Unsichtbare ist real, und auch das nicht Geschehene ist möglich und denkbar.
So verstanden, wird diese Erzählung zum Fanal einer verpassten historischen Chance und der Aufstand zu einem Ereignis, das die politische Entwicklung in der Nachwende-Zeit nachhaltig beeinflusst hätte, wenn er denn stattgefunden hätte. Volker Braun schließt seine Erzählung lakonisch mit den Worten: „Diese Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, dass sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte.“
Autor: Volker Braun
Titel: „Die hellen Haufen“
Gebundene Ausgabe: 96 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518422391
ISBN-13: 978-3518422397