Interview mit Mary Bauermeister auf der Frankfurter Buchmesse 2011

KULTURBUCHTIPPS: Ihr Buch „Ich hänge im Triolengitter“ war eine wirklich faszinierende Lektüre, aber Ihr Buch ist derart vielschichtig, dass es mir schwer fällt, Ihr Buch kategorisch einzuordnen.

MARY BAUERMEISTER: Ich bin mit meinem Buch ja irgendwie so ein Zwischending: Zwischen Kulturgeschichte und Sozialgeschichte, Zeitgeschichte und Roman, Krimi und Liebesgeschichte ist alles drin.

KULTURBUCHTIPPS: Ich habe eine Menge gelernt, nicht nur über die Kunst und die elektronische Musik Karlheinz Stockhausens, sondern auch über das Leben selbst.

MARY BAUERMEISTER: Meiner Meinung nach kann man das auch nicht trennen. Kunst und Leben gehören einfach zusammen. Man sagt ja oft den Frauen nach, dass sie das Menschliche nicht raus lassen können, aber genau das macht ja auch unsere Stärke aus. Kunst ist nicht unabhängig vom Menschen. Es wird kein Kunstwerk geschaffen ohne einen menschlichen Hintergrund. Jedes Bild, auch in der gegenstandslosen Malerei, hat eine Ikonographie, basiert also auf einem menschlichen Gedanken, der im gefühlsmäßigen Leben verankert ist und dann zu dem Bild führt. Wie der Künstler das dann umsetzt, ist egal, aber immer steckt ein Stück Leben.

KULTURBUCHTIPPS: Wir erfahren auch eine Menge über Karlheinz Stockhausen.

MARY BAUERMEISTER: Das war der Sinn der Sache. Ich wollte ihn als Menschen zeigen. Ich wollte zeigen, wie es zu dieser Musik kommt und was als Menschliches hinter dieser Musik steckt. Denn Stockhausen wird ja musikalisch nicht verstanden – nur von Kollegen, die ihn wiederum grandios finden und ihn eindeutig als das Genie des 20. Jahrhunderts bezeichnen – manche mit Neid, manche mit Ehrfurcht. Aber diese musikalische Welt ist für den normalen Menschen nicht nachvollziehbar, weil es weder rhythmisch noch harmonisch etwas hat, was man mitsingen oder mit mitklatschen kann. Es ist wahnsinnig schwierige Musik.

KULTURBUCHTIPPS: Man muss sich damit beschäftigen. Beschäftigen wollen, um einen Einstieg zu finden in die Komplexität dieser unbekannten Klangwelt. Ihr Buch bringt den Leser näher an den Musiker Stockhausen heran und öffnet somit einen Zugang zu dessen Musik.

MARY BAUERMEISTER: Das wäre schön. Wenn mir das gelungen ist, dann ist ja auch für Stockhausen etwas geschehen durch dieses Buch.

KULTURBUCHTIPPS: Mich würde noch interessieren, warum Sie das Buch geschrieben haben. Wollten Sie einfach nur etwas über Stockhausen erzählen oder sagten Sie sich, dass Sie in Ihrem Leben so viel Interessantes erlebt haben, das Sie (mit-)teilen wollen?

MARY BAUERMEISTER: Ich schreibe ja schon eine ganze Weile ganz verschiedene Sachen. Ich habe eine künstlerische Geschichte zu schreiben, eine menschliche Geschichte zu schreiben als Kriegskind und Fluchtkind mit grauenhaften Kriegserfahrungen, und ich habe eine spirituelle Geschichte zu schreiben. Diese drei Aspekte zusammen zu bringen, ist sehr schwer. Deshalb war es für mich am einfachsten, diese elf Jahre Liebesgeschichte erst einmal raus zu nehmen und dem ein eigenes Buch zu widmen. Und es geschah dadurch, dass ich die ersten drei Bücher aus der Edition Elke Heidenreich bei einer Vorstellung im Museum Ludwig in Köln erlebte, die Autoren lasen, und ich fand das so gut, und ich sah, dass sie den „Verdi“ von Franz Werfel wieder aufgelegt hatte – ein grandioses Musikbuch. Spontan ging ich dann nach vorne und sagte: „Guten Tag, ich bin Soundso…“ – ich wusste ja gar nicht, wer Elke Heidenreich ist, ich guck’ weder Fernsehen, noch lese ich Zeitung – Aber ich sah diese peppige, intelligente Frau auf der Bühne, und da bin ich hin und sagte: „Ich hätte ein Buch zu schreiben über mein Leben mit Stockhausen“, und nach fünf Minuten waren wir uns einig. So ist das entstanden. Das Buch ist ein Ausschnitt, es ist ein Siebtel meines Lebens, kann man sagen, und dieses Siebtel ist nun festgehalten. Ich liebte immer Stockhausens Musik, ich brauchte da keine Einführung, diese fremde Tonwelt hat mich in unglaubliche Räume befördert; diese Räume sind mystisch schön, aber nicht jedem zugänglich. Dann habe ich überlegt, wo der Schlüssel liegt. Der Schlüssel zu Stockhausens Werk liegt in seinem eigenen Leben, in seinem Schmerz und seiner Liebessehnsucht und in seinem Talent des Musikalischen. Das zusammen ergibt erst die Musik. Ich habe gedacht, wenn man das beschreibt, wo das herkommt und aus welchen Energien sich das speist, dann könnte man auch einen Zugang zu seiner Musik finden. Und genau das habe ich versucht, in Worten zu schaffen, ohne Musikbeispiele zu geben. Weil mir immer daran gelegen ist, diesen Menschen auch verständlich zu machen. Denn Stockhausen wird oft so als „Womanizer“ gesehen, das ist er gar nicht gewesen; er hatte tausend Frauen, und er liebte sie auch alle, aber er ist kein Don Juan. Er ist nicht leichtfertig, sondern er hat immer tief mit seiner Sittlichkeit gerungen und er liebte sie wirklich. Lieben ist für ihn Wiedererkennen. Als ich es fertig gebracht habe, den Vergleich abzustellen und nicht zu denken, an mir fehlt was, sondern einfach zuzulassen, dass eine Sonne hundert Planeten wärmen kann, und mir nicht einzubilden, dass ich der einzige Planet bin und dass man Liebe nicht besitzen kann – als ich das begriffen hatte, war ich von einer euphorischen Freiheit und konnte mitempfinden, was dieser andere bestimmte Mensch in ihm hervor ruft. Ich konnte es mit vollziehen und nachvollziehen.

KULTURBUCHTIPPS: Das war dies aber eine Erkenntnis, die nicht nur vom Kopf, sondern auch vom Herzen her kam.

MARY BAUERMEISTER: Es kam von beidem. Obwohl das Herz natürlich auch schmerzte; der Schmerz ist ja auch in der Seele. Die Einsicht kam aus dem Herzen, und dann merkte ich aber, in welche Freiheit ich kam, seitdem ich nicht mehr glaubte, dass ich das, was ich liebte, auch besitzen müsste. Dann war ich frei, dann konnte ich lieben, und der andere brauchte das auch gar nicht zu merken – man kann sehr gut jemanden lieben, ohne dass der das überhaupt mitkriegt. Ich war einfach erfüllt von einer generellen menschlichen Liebe. Authentische Menschen kann ich lieben, die brauche ich nicht besitzen, und der braucht das auch gar nicht merken, ich kann ihn fördern. Das ist die subtilste Form der Erotik, dass ich einen jungen Menschen, der liebeswürdig ist und den ich auch lieben könnte, fördere. Ich sage mir, das ist ein toller Künstler, den fördere ich jetzt.

KULTURBUCHTIPPS: Wie sind Sie an das Buchprojekt herangegangen?

MARY BAUERMEISTER: Erst einmal habe ich drauf los geschrieben. Als erstes habe ich das Südfrankreich-Kapitel mit den Paaren geschrieben: Max Ernst, Miró usw. – Das war ein sehr einfach zu schreibendes Erlebnis mit Anderen, weil ich dachte, jetzt musst Du für die Elke irgendwas schreiben um zu zeigen, dass ich schreiben kann. Doch das war eigentlich kein Problem. Sie kam mich besuchen, ich habe ihr zwei Gedichte vorgelesen, und das war spannend: Da wurde das peppige Gesicht dieser Frau ganz professionell; sie wurde fast männlich im Gesicht und horchte, und ich guckte sie an und dachte, Donnerwetter, wie ein Mensch so aus dem Leben plötzlich, wenn er professionell beurteilen muss, ganz klar wird. Ich las ihr also die zwei Gedichte vor, und nach dem zweiten sagte sie: „Schreiben können Sie. Das ist kein Problem.“ Ab dann haben wir uns geduzt, und danach habe ich ihr einige Dinge erzählt, die sehr mystisch sind, doch sie sagte: „Versuch’ die Esoterik draußen zu lassen. Wir wollen ein Buch über Stockhausen und nicht schon den Stolperstein des Esoterischen.“ Ich antwortete, das wird mir schwer fallen, aber ich kann es – außer meinem eigenen Erlebnis, dass ich vierzig Kilometer durch die Gegend renne mit dem Gedanken an den Geliebten im Kopf und den dann treffe. – Das ist doch irre, so etwas könntest Du in einem Roman doch gar nicht schreiben, das wäre in einem Roman falsch, weil das nur das Leben machen kann. Dieses Erlebnis ist für mich auch heute noch so unerklärlich. – Oder auch dieser Schriftzug im hohen Schnee: „Ruhe in Frieden“ – das ist mir selber unerklärlich, und deswegen kann das auch nicht erfunden werden, das kann nur wahr sein. Und diese ganzen Dinge haben mich dann dazu gebracht, mit dem Buch zu beginnen. Der erste Schritt war, wie gesagt, diese Südfrankreich-Reise, und dann habe ich ein Potpourri erstellt, indem ich einfach aufschrieb, woran ich mich erinnerte, und alles, was ich täglich erlebte, dazu geschrieben. Also: Jetzt ist es draußen kein Fluglärm, herrlich, der Himmel wird wieder blau, jetzt geht gerade die Sonne auf – das habe ich alles mit rein gebracht, und dann kam wieder ein Stück Erinnerung… Ich habe mich also einfach warm geschrieben, und so passierte es, dass ich dachte: „Ah ja, die Sonne geht auf – jetzt habe ich eine Erinnerung…“, und dann kriegte ich also einen Haken, und dann habe ich losgelegt und alles aufgeschrieben. Und dieser arme Verlag kriegte das jetzt von mir handgeschrieben rüber. Ich kann gar nicht Maschine schreiben noch am Computer schreiben, sondern ich habe das mit der Hand geschrieben. Früher hatte ich mal versucht, mit der Maschine zu schreiben, aber dann merkte ich, dass mein Denken gar nicht in Gang. Während ich jedoch mit der Hand schreibe, denke ich. Und während der Zeit, die ich brauche, um etwas zu schreiben, geht in meinen Gedanken ein Kommentar los, also assoziativ ordnen sich andere Gedanken dazu, und das ist nur so, wenn ich mit der Hand schreibe.

KULTURBUCHTIPPS: Das hört man öfter von Autoren. Sie müssen mit der Hand schreiben, weil der mechanische Vorgang des Schreibens mit der Hand ist ein völlig anderer, ursprünglicherer, als das Tippen auf einer Tastatur.

MARY BAUERMEISTER: Genau. Was ich als nächstes versuchen werde, ist das Schreiben mit links. Ich kann zum Beispiel Spiegelschrift schreiben, ich kann auf dem Kopf schreiben, aber eben alles mit rechts. Ich möchte mir jetzt einmal angewöhnen, etwas mit links zu schreiben, und dann sehen, was passiert. – Doch zurück zum Buch. Ich habe dann beim Schreiben sehr einfach immer wieder einen Faden gefunden, aber das war natürlich überhaupt nicht chronologisch geordnet, sondern es war projektiert am dem Heute und an meinem Schreibprozess – wie ich das in meinen bildnerischen Arbeiten auch immer hinein bringe: Wenn ich in meinem Bild einen Klecks mache, dann radiere ich den nicht weg, sondern ich kopiere ihn, mache den schwarzen Klecks ein bisschen heller und heller, bis er im Weiß verschwindet. Dann ist der integriert, und das ist mein Arbeitsprozess. Und das wollte ich im Schriftstellerischen jetzt auch so handhaben. Doch das brachte ein solch herrliches Chaos, das mir sehr gefallen hat, aber die Lektoren waren verzweifelt und sagten, das müssen wir alles raus schmeißen, Dein Leben ist so komplex, da können wir nicht auch noch das dazu tun… – Aber das werde ich in irgendeinem späteren Buch mal machen: den Prozess mit rein tun. Doch die Lektoren haben sogar darauf bestanden, dass es chronologisch geordnet wird, was ja eigentlich altmodisch ist. Aber der Inhalt ist so komplex, dass man sonst ohne die chronologische Reihenfolge den Faden verliert. Also half mir die Lektorin, das zu ordnen, und ich merkte, auf einmal wird das Ganze ja wie ein simples Aquarellbild und ist etwas ganz Gegenständliches. Das hatte mich zunächst gestört, auf der andren Seite wollte ich ja etwas semantisch rüber bringen. Ich hatte ja eine Absicht, und die kann man nicht gegenstandslos darstellen. Also wurde das, was ich ursprünglich wollte, aus meinem Chaos aus Collagen heraus destilliert, und dann wurde es eine ganz normale chronologische Erzählung von elf Jahren Leben. Dann hatte ich also diese chronologische Geschichte, aber das war mir dann doch zu wenig, denn es hatte ja nur die eine Ebene, nämliche die Ebene einer alten Frau, die sich zurück erinnert an ihre Jugend. Jetzt wollten wir ja ursprünglich auch viele Briefe dazu tun. Jetzt bin ich also hin und habe diese Briefe Pappkarton nach Pappkarton durchgeschaut und sortiert. Allein dafür habe ich schon anderthalb Monate gebraucht, die chronologisch zu sortieren, durch zu lesen und das Wesentliche auf kleine Zettelchen zu schreiben. Aber das ist ein eigenes Buch. Da merkte ich, das ist sinnlos, das können wir nicht in dasselbe Buch bringen; das sind so schön geschriebene Briefe, die gehören in ein eigenes Buch. – Bei dieser Arbeit merkte ich auch, dass mir meine eigenen Briefe fehlten, aber bis ein, zwei Briefe liegen die alle im Stockhausen-Archiv. Doch was viel wichtiger ist: Ich kam natürlich beim Lesen seiner Liebesbriefe an die ganzen Gefühle. Aus der Erinnerung war das ein Buch der Verherrlichung, doch jetzt kommen die Gefühle hinzu. Der nächste Akt war dann, die Tagebücher zu Rate zu ziehen, und damit kam ich dann auch an meine Schmerzen heran, auch an meine Gefühle und an das, wozu ich mich letztlich durchringen musste, denn es ist ja nicht einfach gewesen. Und dieses Durchringen, um dahin zu kommen, wo ich heute bin, das habe ich noch einmal durchlebt, und das war wirklich sehr schmerzhaft, sehr intensiv, aber auch sehr schön gewesen, dass ich einfach die Intensität unserer Liebesbeziehung noch einmal durch empfinden konnte. Der Stockhausen war richtig hinter mir und bei mir, während der anderthalb Jahre, als ich das Buch schrieb. Das war eine sehr schöne Erfahrung. Ich habe dann sogar meinen Ehering wieder angezogen, bis mir der Finger so dick wurde, dass ich ihn mit Seife wieder abmachen musste. Es ist schon unpraktisch, einen Ring zu tragen, wenn man arbeitet. Aber es war eine intensive Rückerinnerung bis hin in die Liebesgefühle, in die Schmerzgefühle, aber auch in diese Glücksgefühle, dass ich diese Zickigkeit von normaler Eifersucht überwunden und hinter mir gelassen hatte. Ich empfand auch das Bedauern für all die Menschen, die das nicht schaffen und in diesen Rosenkrieg-Gefühlen und in diesem „Mein Mann, Dein Mann“-Quatsch hängen bleiben, anstatt der Liebe einen tieferen Sinn zu geben außer diesem Oberflächen-Charme. Wenn ich davon den Frauen in diesem Buch ein bisschen was habe mitgeben können: Mut zu haben, das durch zu stehen, und den Männern Mut zu machen, die Wahrheit zu sagen und nicht immer die Ehefrau schlecht zu machen, um ihre Geliebte zu rechtfertigen – Wenn ich also ein bisschen dazu aufgefordert habe – das ist ja jenseits des Stockhausen-Buches -, dass die Menschen miteinander ehrlicher umgehen, auch in der Liebe, denn Liebe ändert sich, wenn man Kinder hat und Du hast da plötzlich eine Mutter im Bett, die vier Kinder hat, dann hast Du nicht mehr Deine Geliebte in den Armen, das ist ein Unterschied für einen Mann, das ist schwer für einen Mann. Natürlich ist es für eine Frau auch schwer, wenn sie ein kleines Baby am Busen hat, und der Mann will mit ihr schlafen – das ist einfach nicht mehr stimmig. Und an diesem Punkt stimme ich eigentlich mit den Mormonen überein, die einer Frau mit ihrem Kind zwei Jahre Zeit geben. Danach sucht die dem Mann eine andere Frau aus, und alle sind sich einig, und keiner muss den anderen belügen, und es ist eine Entlastung. Das ist meine Meinung, aber ich habe trotzdem eine hohe Achtung vor jeder monogamen Beziehung, finde ich toll, wer das schafft bis zum Lebensende: Hut ab! Aber es ist nicht jeder gleich. Wenn man den Stockhausen-Ausspruch ernst nimmt: „Lieben ist Wiedererkennen“ und wenn man Erinnerungen an frühere Leben hat, dann merkt man, dass Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Geliebte, Ex-Mann, dass wir alle einmal in anderen Konstellationen miteinander verknüpft waren, und dann ist das alles unwichtig. Es ist letztlich dann auch unwichtig, ob ich mit jemanden ins bett gehen kann, man kann Liebe auch anders ausdrücken; jedoch diese einseitige Sicht, dass wir nur ein einziges Leben haben und das dann der Mann oder die Frau des Lebens sein soll, ist eine Verkleinerung des Möglichen. Können wir nur so sein: „Ha, das ist jetzt mein Mann oder meine Frau, und der muss mir jetzt treu sein!“? Das ist doch Quatsch. Wenn man eine höhere oder eine weitere Sicht hat, dann ist das alles völlig egal, und irgendwann werden wir überhaupt nicht mehr durch das Wurzel-Chakra zeigen, dann hört das sowieso auf, dann ist auch keiner mehr fruchtbar, und dann werden wir sowieso ganz andere Wesen werden, dann wird ein Mann, der polygam ist und viele Frauen hat, wahrscheinlich noch als Held gefeiert. Wer heute als Womanizer bezeichnet wird, ist dann einer der wenigen Überbleibsel, die überhaupt noch einen Samen haben, der fruchtbar ist. Das wird alles aufhören. Wir werden uns so zu Ende genmanipulieren, dass überhaupt keiner mehr fruchtbar ist, und dann wollen wir mal gucken, wie es weiter geht. Da sind wir ja auch schon fleißig dabei, und dann ändern sich auch die Maßstäbe. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass man als Liebespaar nicht durch all diese Stufen hindurch muss, den Anderen als Lebenssinn zu sehen, was ja typisch ist für das Verliebtsein, bis man plötzlich merkt, dass mein Lebenssinn nicht ein andrer Mensch sein darf. Der Lebenssinn ist, meiner Schöpfung authentisch zu sein. Also in diesem Sinne könnte ich religiös sagen: Ich muss nur meinem Schöpfer treu sein und damit meinem Schicksalsplan, keinem Anderen bin ich verpflichtet. Ich kann nicht einem anderen Teil der Schöpfung treu sein. Das ist ein Irrtum. Dann machen sich die Teile voneinander abhängig und vergessen die Ur-Schöpfung. Und wenn alle Menschen den Mut hätten, authentisch ihren Lebenssinn zu leben und ehrlich zueinander zu sein, dann könnte es sehr viel friedlicher zugehen auf der Welt. Das könnte auch sehr viel Pazifismus bewirken – nicht von oben befohlen, sondern weil jeder auf seiner eigenen Lebensspur ist. Dann braucht man sich auch nicht mehr verteidigen und auch nicht mehr rechtfertigen, und jeder fördert jeden.

KULTURBUCHTIPPS: Das setzte jedoch voraus, dass viele es schafften, diesen Sinn ihres Lebens zu erkennen.

MARY BAUERMEISTER: Und das müsste eigentlich die Erziehung leisten. Leider achtet die Erziehung heute viel zu viel auf Wissen, auf Intellekt, auf Drill, ein guter Staatsbürger zu werden – und auf Intelligenz und Anpassung. Da sind die Anthroposophen in ihrem Ansatz grandios, weil sie sagen, dass jedes Menschenkind authentisch ist. Und die machen ja auch völlig verschieden Abitur – der Eine schreibt mathematische Formeln, die Andere macht einen Gartenteich… Das habe ich jedenfalls bei einer Abitur-Abschlussfeier von Anthroposophen erlebt, und das entspricht dem Erziehungsprinzip, jeden Menschen dahin zu bringen, wo er ist in seinem Schicksalsplan. Aber dazu bedarf es der Erkenntnis. Das kann ein junger Lehrer nicht, und einen uralten Lehrer, den verehren die Schüler nicht, der kann es auch nicht. Es muss also ein Mittelding sein, es muss ein Lehrer sein, den die jungen Menschen verehren, denn nur für den lernen sie, und es muss aber auch ein Mensch sein, der so viel Weisheit hat und so viel Einsicht in den zu Erziehenden, dass er dessen Schicksalsplan sieht und den ausgräbt. Aber damit müssten ja vorher schon eigentlich die Eltern anfangen, aber die schütten ja alles zu und haben Erwartungen an ihre Kinder.

KULTURBUCHTIPPS: Das Kind soll Klavier lernen, Sport treiben,…

MARY BAUERMEISTER: Das Kind muss dem entsprechen, was die Eltern wollen, und die ältesten Kinder haben es da am schwersten. Der Älteste hat es immer am schwersten, denn die ganzen Erwartungen der Eltern liegen auf diesem ältesten Sohn oder der ältesten Tochter. Ich hatte da Glück, ich war die Zweite und darüber hinaus auch noch ein Mädchen. Ich konnte im Windschatten meines Bruders wunderbar gedeihen. Er musste Arzt werden, er musste Latein und Griechisch lernen, ich brauchte nur noch Latein, und ich war frei. Man erwartete nichts von mir, Mädchen heiraten ja sowieso, und Künstler werden? – In unserer Familie waren viele Künstler, und das waren alles arme Schlucker; mein Onkel wurde unterstützt von den Geschwistern, meiner Tante war Malerin, mein Onkel Bildhauer, mein Großvater war Schriftsteller, der musste noch einen Brotberuf ausüben – die Kunst brachte also nichts. Und so wusste ich, leben können werden ich davon nie, ich werde ein bescheidenes Leben führen, aber das tun können, was ich gerne tue. Ich habe nie etwas anderes gemacht als das, was ich gerne tue. Zwei Wochen war ich in der Fabrik, als ich von zu Hause weg gelaufen bin. Ich wollte mit den Arbeitern leben, wollte Kommunistin werden und mit den Arbeitern reden. Da war ich also in der Fabrik und habe da gearbeitet und in einem Bunker-Hotel übernachtet für fünf Mark die Nacht. Nach zwei Wochen fand ich die Arbeiter so ordinär und bescheuert, dass ich dachte, nee, die Arbeiter sind’s auch nicht. Und dann bin ich da auch weg, und das waren die einzigen zwei Wochen, in denen ich für jemand Anderen gearbeitet habe. Und dann habe ich mich durchgehungert.

KULTURBUCHTIPPS: Das kommt ja in Ihrem Buch aus sehr gut heraus, dass Sie eigentlich immer nur das gemacht, haben, was Sie wirklich wollten.

MARY BAUERMEISTER: Das war eigentlich nicht immer ein Wille, sondern es war die Intuition, von der ich mich leiten ließ. Es war, was ich intuitiv fühlte. Ich habe gesagt, ich brauche mich nicht rechtfertigen, und oft haben sie mich gefragt, ja, was willst Du denn stattdessen? Ich wusste immer, wenn irgendetwas nicht stimmt. Ich wusste als junger Mensch nicht immer genau, was ich wollte, aber ich wusste ganz genau, das hier willst Du nicht: Dies stimmt nicht und jenes stimmt nicht, und dann hat sich langsam herausgestellt, ich brauche nur meiner eigenen Intuition und meiner Inspiration zu folgen, und dann werde ich geführt, aber ich durfte mich nicht führen lassen. – Ich hatte einen fantastischen Zeichenlehrer, der kam aus Siebenbürgen, ein großartiger Mann, der hat mich befreit. Vorher mussten wir Rotkäppchen zeichnen in der Schule – wie alle. Der kam von Anfang an mit abstrakten Themen, damals war ich fünfzehn: kalte Farben, warme Farben, Kampf der Formen – großartige Themen, und der hatte später mal in einem Interview zu mir gesagt: Ich habe dich sehr schnell frei gelassen, Du brauchtest nichts als Unterstützung. Der hat mich nie zu etwas gezwungen, sondern hat mich frei gelassen. Und der hatte auch gesagt, wenn ein Bild noch nicht stimmt, dann ist es noch nicht fertig. Ein Bild ist niemals schlecht, es ist nur noch nicht fertig. Das war ein grandioser Rat.

KULTURBUCHTIPPS: Solch einen Lehrer zu haben, muss aber zu jener Zeit eine echte Seltenheit gewesen sein.

MARY BAUERMEISTER: Ein Glücksfall war das! Einen Lehrer zu haben, der sagt, es gibt nichts Schlechtes, es gibt nur noch nicht Fertiges. Du bist noch nicht fertig, geh’ weiter und geh’ da durch! – Und dann hatte ich noch einen wunderbaren Lehrer, das war ein Kriegsversehrter, der kam ohne Beine aus dem Krieg, der war ein Kunstkritiker in der Kölner Rundschau, der las uns Kindern Hesse vor, Arno Holz, Baudelaire und solche Texte, die wir Jugendlicher in der Schule noch gar nicht durchnahmen, damals hingen wir noch bei Goethes Faust oder Schillers Glocke fest, da hatte der uns diese neuen Sachen vorgelesen, auch James Joyce hat er vorgelesen – und diesen Lehrer liebten wir einfach. Als ich dann damals in einer sehr schweren Entscheidungsphase war, nämlich meinen Vater zu verlassen und nicht Mathematik zu studieren, sondern in die Kunst zu springen, obwohl mein Vater das auch unterstützt hätte, aber nicht so richtig, da bin ich zu ihm gegangen und habe ihn gefragt, was er mir raten würde. Ich sagte also. Bitte geben Sie mir einen Rat. Er sagte dann, wir hatten uns geduzt: Sag’ mir nicht, worum es geht, ich gebe Dir den Rat zuerst. Der Rat war: Tue immer das, was den größeren Mut von Dir erfordert. – Diese beiden Lehrer haben mir für mein Leben diese beiden Maxime mitgegeben. Der Eine, der sagte: Das Bild ist nicht schlecht, es ist noch nicht fertig. Und der Andere, der sagte: Tue immer das, was den größeren Mut von dir erfordert. – Und dann traf ich später auch noch Duchamp, mein Idol in der Kunst, dessen Lebensweg und sein Refüsieren, weiter Kunst zu machen wegen des Kunstbetriebs, überhaupt dessen ganze Haltung mich sehr beeindruckte. – Das waren zusammen die drei Lehrer in meinem Leben. Und viel später gab es dann noch einen Philosophen, der aus der pythagoreischen westlichen Mysterien-Tradition kommt, Frédéric Lionel, der uns zwanzig Jahre lang begleitet hat als Lehrer. Das sind so Menschen, die mir Vorbilder waren. Und ich hatte wohl unglaubliches Glück, diese Menschen kennen zu lernen.

KULTURBUCHTIPPS: Aber Sie hatten auch immer so eine Art Schicksalsvertrauen, dass sich immer alles zum Guten wenden würde… Denn die meisten Menschen wissen ziemlich gut, was sie nicht wollen, jedoch wohin sie möchten, bleibt vielen verborgen.

MARY BAUERMEISTER: Dann bleiben sie in der falschen Ehe, anstatt diese zu beenden.

KULTURBUCHTIPPS: Zum Beispiel.

MARY BAUERMEISTER: Und dann die richtige oder der richtige, und dann ist die Alte beleidigt. Anstatt gleich zu sagen, es stimmt nicht mehr, wir trennen uns, und dann kommt zwei Jahre später der neue Partner. Die Menschen, die nicht wagen, in die Luft zu springen, sondern erst etwas Besseres haben wollen, bevor sie das Schlechte verlassen, die sind verteufelt. Die stecken immer in der Sackgasse. Und ich bin natürlich von Natur aus ein hoffnungsloser Optimist. Die Menschheit kann noch so schlimm sein, wenn ich bei einer Chorprobe war und einen Kirchenchor die h-Moll-Messe singen hörte, dann sagte ich, solange das gesungen wird, geht die Welt nicht unter. Ich komme immer wieder vor allem in der Natur in eine Situation, da könnte ich die Schöpfung bejubeln, das Leben bejubeln und mein eigenes Leid – das ist alles Seligkeit, auch was ich selber durchgemacht habe, da könnte ich eine Tragödie daraus machen. Ich hätte vor zehn oder vor zwanzig Jahren aus dem ganzen Leben mit Stockhausen eine Tragödie machen können. Das wäre dann aber auch ein Racheakt geworden, und das wäre schlecht gewesen. Und wenn ich noch zwanzig Jahre weiter leben würde, käme vielleicht eine Komödie raus. Jetzt ist es, wie es jetzt ist.

KULTURBUCHTIPPS: Ich habe mich gefragt, wenn man so wie Sie in diesem Buch auf sein Leben zurück schaut, mit all den schönen Erlebnissen, aber auch mit all dem Leid und dem Schmerz, stellt man sich dann die Frage, ob das eigene Leben gut war? Oder sagen Sie sich, dass es eben so war, wie es war?

MARY BAUERMEISTER: Die Frage nach Gut und Böse stellt sich mir nicht mehr. Weil ich im Alter und vor allem durch die pythagoreischen Lehren selber erfahren habe, dass alles, was ich durchlebt habe, nicht von außen zu mir kommt, sondern aus mir selbst geboren ist. Mein Schicksal ist mein Schicksalsplan. Ich habe mein Skript selber geschrieben, bei der Geburt vergessen und gehe dann durch das Skript, und plötzlich merke ich, aha, diese Aufgabe hast Du jetzt abgehakt, das hast Du jetzt geschafft. Die Frage nach Gut und Böse stellt sich dann nicht mehr, sondern es ist die Frage nach geschafft oder nicht geschafft. Ist das, was ich mir vorgenommen habe, nun gelungen oder nicht gelungen? Ich weiß es nicht ganz, vielleicht habe ich Menschen Schmerzen bereitet, vielleicht habe ich doch Wunden auf der Erde hinterlassen in anderen Menschen? Das kann ich nicht wissen, ich habe es nie bewusst gemacht. Ich habe es nie versucht, einem Menschen bewusst weh zu tun. Aber es kann sein, dass allein meine Existenz anderen Menschen weh getan hat. Doch dafür kann ich mich nicht entschuldigen. – Mich selber kann eigentlich nichts mehr erschüttern. Was mich manchmal noch trifft, ist bewusste Bösartigkeit. Wenn einer mir unbewusst was Böses tut: forget it. Aber wenn einer ganz bewusst zu mir bösartig ist, dann reagiere ich, und dann merke ich: aha, ich reagiere, also hat es etwas mit mir zu tun. Wenn es mich irritiert oder wenn es mich trifft, dann betrifft es mich auch, und dann suche ich bei mir selber. Dann ist der Andere mir Anlass, bei mir selber zu suchen, was in mir noch verwundbar ist und was da in mir ist, so dass mich das überhaupt verwundet. Dann ist das ein irrsinnig guter Prozess der Selbsterkenntnis, und so wird jeder Stolperstein ein Prozess der Selbsterkundung. Das habe ich von dem pythagoreischen Philosophen gelernt.

KULTURBUCHTIPPS: Sie haben diesen Punkt ja auch in Ihrem Buch sehr schön als Ihre Lebensmaxime beschrieben: „Alles, was mir geschieht, hat eine Ursache, die in mir selber liegt, oder einen Sinn, der sich mir in der Zukunft erschließen wird.“

MARY BAUERMEISTER: Daran glaube ich. Wenn ich den Grund nicht finde und ich durch eine harte Phase gehe, dann denke ich, dass mich das wahrscheinlich auf etwas vorbereitet, das zukünftig noch kommt. Was in meinem Leben noch zukünftig kommen kann, das sind ja einige Dinge, ich hatte schon einen kleinen Schlaganfall, ich hatte drei Lungenembolien und krebs – das heißt, krankheitsmäßig könnte da noch eine Erfahrung auf mich zukommen, zu denen ich aber durch diese Vorbereitungen durch Schlaganfall, Sprachverlust und all diese Dinge schon Vorübungen durchlaufen habe. Aber ich denke nicht nur an die Vergangenheit. Ich glaube auch, dass wir uns durch unser Schicksal und durch Schwierigkeiten durchkämpfen, um vorbereitet zu sein für eine noch viel härtere Phase. Also lass’ mal heute die Wirtschaft zusammen brechen, die Ökologie zusammen brechen – ich könnte mein ganzes Dorf ernähren. Ich wüsste jede Pflanze, die man essen kann, jede Wurzel, die man ausgraben kann, jedes Blatt, das man auskochen kann – ich könnte unser ganzes kleines Städtchen anleiten zum Survival. Und manchmal habe ich auch Träume und träume so was. Dann denke ich, dass diese ganzen Fähigkeiten als Erinnerung in mir sind, und ich fange auch heute noch an, Kartoffeln anzubauen. Obwohl man doch heute keine Kartoffeln mehr anzubauen braucht. Aber ich mache es: Ich baue meine Kartoffeln an, ich baue mein Gemüse an… – Das ist wie eine Übung. Wie andere Jogging machen oder auf der Fitness-Maschine stehen, so hocke ich und zupfe Unkraut oder pflanze. Das sind alles Dinge, die sind völlig unsinnig, aber ich tue sie. Meine Enkel fragen auch, Oma, was bringt Dir der Komposthaufen? Die Frage allein hat mich total konsterniert und verwundert: Warum muss immer alles was bringen?!

KULTURBUCHTIPPS: Das ist das berüchtigte Effizienzdenken unserer Zeit.

MARY BAUERMEISTER: Siebzig Prozent meines Lebens bringt nichts. Und ich tue sie trotzdem. Weil ich ein Teil der Natur bin, Teil der Ökologie und der menschlichen Prozesse bin, und die tue ich auch, weil sie mir Kraft geben. Wenn ich dann fix und fertig und lahm gearbeitet aus dem Garten komme, bin ich innerlich euphorisch. Und wenn ich nur am Schreibtisch sitze, dann verkümmere ich. Ich brauche die gesamte Breite der menschlichen Erfahrung.

KULTURBUCHTIPPS: Was Sie hier beschreiben, ist ja eigentlich eine absolute Gegenhaltung zu unserer Zivilisation. Das Leben in unserer Gesellschaft ist ja völlig überladen, angetrieben von dem Wunsch einer möglichst maximalen Anhäufung von Dingen und geprägt vom Besitzdenken. Sie selbst haben das einmal in einem anderen Interview an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft sehr hübsch mit dem Begriff der „Zuvielisation“ umschrieben.

MARY BAUERMEISTER: Ja! Das war übrigens köstlich, das Interview war während eines Symposiums geführt worden. Ich war ja auch Teil des Symposiums, und dann hat mich ein Student in so eine kleine Kammer geführt. Und mein Statement ist in einem Satz gesprochen – sieben Minuten lang, da war ich absolut inspiriert, und das kommt nicht aus dem Denken. Ich habe ja auf dem Symposium über Intuition und Inspiration gesprochen. Ich habe nur gesagt: Der Zeitgeist wird aus der Zukunft impulsiert. Da habe ich diesen Satz das erste Mal benutzt. Und genau das ist es. Das haben die Kinder, die haben die Antenne auf, die müssen nur horchen. Ich lege wirklich große Hoffnung in diese jungen Leute. Mein fünfjährigen Enkel hat zum Beispiel neulich gesagt: Die Zeit, die überall ist, die keiner sieht, die aber in jeder Ritze steckt… Ist das nicht ein wunderschönes Bild – von einem Fünfjährigen! Das heißt, dieses Überraschende von Zeit oder wenn einen plötzlich eine Zukunftsvision packt oder eine Vergangenheitserinnerung, das kommt so aus den versteckten Rotzen unseres Unterbewusstseins.

KULTURBUCHTIPPS: Wohin treibt unsere Gesellschaft? Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Sinnkrise…

MARY BAUERMEISTER: Ich hoffe, dass das, was wir bereits in den 1960er Jahren gefordert haben, wahr wird, nämlich dass die Kapitalisierung des Geldes aufhört. Geld als Tauschmittel ist grandios. Ob das nun Muscheln, Kartoffeln, Knete oder Münzen und Scheine sind – Geld als Tauschmittel ist nützlich und nötig. Denn wie will man sonst eine Ziege gegen einen Schuster tauschen? Ich selber habe früher alles gegen Bilder getauscht, aber beim Schuster musste ich Geld haben. Also als Tauschmittel fantastisch, als Ware selber unmöglich. Geld kann keine Kinder kriegen. Das ist ein Irrtum. Wenn ein Hirte eine Ziegenherde hat und braucht Futter, und nun leiht sich vom Nachbarn Futter und verspricht ihm dafür eine Ziege, die im nächsten Jahr, so ist das legitim. Aber wenn Du dem Geld andichtest, dass es Ziegenkinder kriegen kann, also Zinsen und Zinseszinsen als Ziegenkinder, dann ist das falsch, das gibt es einfach nicht. Dann musst Du es irgendjemandem rauben. Zins und Zinseszins rauben irgendjemandem pausenlos was. Und wenn ich selbst mehr habe, als ich brauche, dann ist es menschlich einfach nur anständig, es dem Bruder oder der Schwester oder auch nicht nur den Verwandten zu geben und zur Verfügung zu stellen. Aber eben nur 1:1 und nicht mit Zins und Zinseszins. Denn das ist kriminell, weil es etwas schafft auf Erden, das die Gier schürt und raubtierartig ist. Diese Gier ist etwas, was wir Menschen in diesem Zeitalter unheimlich entwickelt haben, und die wird zusammen krachen. Aber es wird noch ein bisschen dauern, denn die, die gierig sind, haben noch nicht alles. Aller Landbesitz, aller Goldbesitz, alles, was überhaupt besitzbar ist, wird in den Händen von immer weniger Leuten landen, und dann wird eine Änderung kommen. Ich wurde mal gefragt, wie stellst Du dir denn diese Änderung vor? Da habe ich gesagt, ich mache einen Plot: Tausend Seelen im Jenseits schließen eine Vereinbarung. So, wir werden jetzt in Dreiergruppen bei diesen dreihundert Familien geboren, die alles haben, die wissen ja, wo’s lang geht, und wir erben alles, und dann werden wir die Umverteilung machen. Fand ich eine gute Idee. Also dass quasi die Kinder dieser Reichen sagen, was sollen wir mit dem ganzen Reichtum, und freiwillig eine Umverteilung machen, dann ist es auch egal, ob mit Zins und Zinseszins, denn wenn sie es den Menschen zurück geben, ist wieder alles in Ordnung. Ich finde, man sollte das, was man besitzt, am Ende des Lebens wieder zurück geben. Das ist auch meine Maxime, und das mache ich im Moment mit Haus und Hof und Büchern und allem: Alles, was ich besitze, wird jetzt schon so vorbereitet, dass es nach meinem Tod an die Gemeinschaft zurück geht. Weil ich diese Einstellung als Kind oder als Jugendlicher vertreten habe, und jetzt geht es darum, Farbe zu bekennen und das auch zu tun. Die ersten Schritte sind schon gemacht. Ich bin schon ausgezogen aus meinem Besitz. Das ist ein wunderbares Märchenreich, wunderbar auch für Kinder, für Jugendliche und Behinderte; es soll einen sozialen Sinn haben, es soll Museum werden, aber es können auch Leute dort studieren. Ich habe eine grandiose Buchsammlung dort, und es sollen Menschen dort zu Seminaren zusammen kommen und über die Zukunft forschen – über Ökologie, über Ökonomie, über alles Mögliche. Es treffen sich heute schon heimlich Krebsforscher, die alternative Methoden haben, die von der Gesellschaft und der Pharmaindustrie abgeschossen würden. Auch alternative Energieleute, die haben sich immer bei mir getroffen, das heißt, es wird an einer Zukunft geforscht, die nicht mehr auf Gier und Zinseszins und Ausbeutung basiert, sondern auf dem Wohl der Gemeinschaft und der Tatsache, dass diese Welt allen gehört. Dass alles allen gehört und dass allen die Möglichkeit geboten werden muss zu leben. Natürlich will ich nicht den Überlebenskampf ausschließen, den braucht ein Mensch, und wenn eine Seele wählt, in ein schwieriges Land geboren zu werden, wo Überlebensstrategien wichtig sind, dann will ich das nicht nehmen. So wie die Entwicklungshilfe entschieden hat, den Afrikaner die Hirse weg zu nehmen und dafür Weizen hin zu schaffen, das ist Unsinn. Vor zwei Generationen konnten die noch zwanzig Hirsesorten auf ihrem kahlen Boden züchten, dann kam die Weizenschwemme, und heute weiß kein Bauer in Afrika mehr, wie es funktioniert, und ihnen ist das Saatgut ausgestorben. Heute kriegen die alle ihren Weizen von Monsanto und sind abhängig. Diese Art von Entwicklungshilfe finde ich total schwachsinnig. Das ist keine Hilfe, sondern Ausbeutung. Und da hoffe ich, dass junge Leute das erkennen, dass wir mit unseren Ressourcen sparsamer umgehen und dass der Westen, der am weitesten entwickelte Teil der Erde, freiwillig verzichtet und freiwillig zurück gibt, was er angescheffelt hat. Du kannst einem Bauern in einer Lehmhütte in Indien nicht erzählen: Boah, Ihr habt’s aber toll hier! Das haben wir als Hippies gemacht. Wir sind mit dem Rucksack rüber und haben uns dann bei denen in die Lehmhütte gesetzt. Und die sagten: Heim mit Euch! Ihr fresst uns noch das letzte Essen weg… Ihr habt zu Hause ein Badezimmer? Wir wollen auch ein Badezimmer! Das war eine Illusion, die Hippies, die damals nach Indien zogen, das war Quatsch. Natürlich wollen die auch ein Badezimmer. Um denen das zu verbieten, müssten wir es erst einmal vormachen und auch auf unsere Badezimmer verzichten. Und wenn wir es nicht vormachen hier im Westen, dann sind wir bald weg vom Fenster. Dann werden bald ganz andere Menschenmengen und Kollektive übernehmen. Und so schlimm Mao war, eins hat er erreicht: eine Solidarität im Ganzen. Dass das jetzt wieder kapitalistisch weiter geht und eine Mischung ist von Unterwerfung und Kapitalismus, ändert nichts daran, dass wir das im Westen immer so einseitig anschauen und beurteilen. Oder auch wenn wir Demokratie in den Orient bringen wollen, ist das alles Schwachsinn. Wir sind doch selbst noch nicht einmal demokratiefähig. Wir haben doch selber nicht mal eine richtige Demokratie, das wird doch alles nur missbraucht.

KULTURBUCHTIPPS: Demokratie ist kein exportierbares Produkt.

MARY BAUERMEISTER: Was die Amerikaner zum Beispiel unter dem Vorwand der Demokratie da alles treiben, Du lieber Gott. Aber ich will gar nicht so weit in die amerikanische Kritik gehen, ich verdanke den Amerikanern mein Atelier. Dollar getauscht, eins zu vier, ich habe drüben tolle Werke verkauft, es gibt fantastische Leute in Amerika. Man kann das nicht alles über einen Kamm scheren. Aber diese Tea Party oder ein Pfarrer, der in Amerika von der Kanzel predigen darf, er bitte Gott um den Tod von Obama, und dass dann die Gemeinde klatscht – dass so etwas heute im Westen möglich ist, finde ich einfach unmöglich. Und da müssen wir uns wiederum von Amerika abseilen. – Die Zukunft stelle ich mir also gemeinschaftsfähig vor und nicht egalisierend – Gleichheit heißt aber für mich nicht, alle sind auf dem gleichen Stand, sondern alle haben die gleichen Chancen, ihr Schicksal dort, wo sie sind, zu erfüllen. Dann keine weitere Entwicklungshilfe der Art, dass ich die Hirsesorten abschaffe, sondern Unterstützung dort, wo die Menschen leben, und keine Unterstützung, die nur den Häuptling bezahlt und dann die Minen ausbeutet, sondern das Kapital dort vor Ort lässt. Das ist ja früher gar nicht erkannt worden. Da heißt es erst: Oh, Entwicklungshilfe, wunderbar! Aber das ist alles Quatsch, ist alles Ausbeutung, alles Gier. Die sollen die Völker und die Menschen so lassen, wie sie sind, die sollen ihren eigenen Entwicklungsweg machen können, und die Seelen haben dann eine Chance, dort wieder geboren zu werden, wo sie einen Lernprozess durchmachen müssen. Und wenn einer noch mit dem Schleier gehen muss, weil er das lernen muss, dann wird er da geboren, dann brauche ich den Frauen nicht den Schleier zu nehmen. Wenn aber eine kommt und will ihn ablegen, dann kann ich sagen, willkommen bei uns. Aber zu predigen gegen die Kopftücher, was ist das für ein Unsinn? Ich will natürlich auch keinen Terroristen unter einer Burka.

KULTURBUCHTIPPS: Es klang in unserem Gespräch ja bereits mehrmals an, dass Sie eine gewisse Nähe zur Esoterik empfinden. Wann fing das an? Kamen Sie auf der Asienreise mit Stockhausen das erste Mal damit in Berührung oder wann merkten Sie, dass Sie auch Dinge sehen und wahrnehmen können, die anderen Menschen verborgen bleiben.

MARY BAUERMEISTER: Von meiner Kindheit an habe ich Welten gesehen, die Andere nicht sehen. Es hat auch mit der Synästhesie meines Hirns zu tun, ich kann Musik riechen oder Bilder hören, aber das habe ich relativ gut eingeordnet. Doch habe schon als Kind Wesen wahrgenommen, Farben gesehen und Bewegungen gesehen, die eigentlich nicht sichtbar waren. Und es hat sehr lange gedauert, bis ich gelernt habe, das, was ich sehe, zu unterscheiden von dem, was alle sehen. Ich habe das dann bei meiner dritten Tochter, die diese Fähigkeiten ebenfalls hatte, sehr schützen können. Wenn sie dann etwas sah, was eigentlich nicht sichtbar war, wusste ich, dass sie jetzt in eine feinstoffliche Welt schaute, die physisch sozusagen nicht in der normalen Frequenz schwingt. Bewege ich mich nur eine kleine Frequenz seitwärts, dann sind da ganze Welten, die gleichzeitig unsere Wirklichkeit durchdringen, aber nur wenn ich auf dieser Ebene bin. Hier dieselbe Materie ist so durchlässig, da können gleichzeitig ganz andere Welten existieren. Das kann man gut anschaulich machen mit jenen Kristallen, bei denen zwei verschiedene Kristallformen ineinander wachsen. In einem Bergkristall steckt eine zweite, ganz andere Kristallform drin, weil die Moleklarstruktur so offen ist, dass die beiden sich durchdringen können. Genau so könnte man sich das vorstellen. Schon als junger Mensch hatte ich das Gefühl, als würde ich die Frequenz meiner Wahrnehmung ändern können und quasi einen anderen Gang einlegen, und dann nehme ich eine andere Schicht der Wirklichkeit wahr. Meistens handelte es sich um eine feinstofflichere Schicht, aber ich habe auch einmal eine grobstofflichere Schicht wahrgenommen, die war wie Blei, so einengend und gefängnisartig, das war der reinste Horror. Aber meistens bewegte ich mich in diesen feinstofflicheren Schichten, und dort nahm ich Wesen wahr, Naturwesen, ich sah die Bäume beseelt, ich sah alles beseelt.

KULTURBUCHTIPPS: Können Sie diesen Frequenzwechsel willentlich herbeiführen?

MARY BAUERMEISTER: Nein, aber ich habe später mit unserem Meditationslehrer Techniken erlernt, so dass ich dieser Welt nahe kam. Ich kann es insofern steuern, wenn ich drei Wochen faste und nicht spreche und wandere, dann bin ich in diesen Welten. Das ist eine Askeseübung, bei der ich so feinstofflich werde, dass ich da wieder drin bin. Aber als Kind war diese Welt für mich normal. Und ich hatte eine Mutter, die mir einmal, als ich dann wieder einmal ausgelacht wurde von den anderen Kindern, weil ich irgendwas gesehen hatte, liebevoll ihre Hand auf den Kopf legte und sagte: Maryleinchen, nicht alle Menschen sehen dasselbe. Ihre Hand ruhte so zart auf meinem Kopf, als wäre sie selbst in dieser zarten Welt. Das hatte mich damals sehr getröstet, dass ich wenigsten einen Menschen hatte, der mich verteidigte. Dann habe ich versucht, nicht mehr davon zu erzählen, was ich sah, und ich lernte dann schnell, was ist diese Welt hier und was gehört zu jener anderen Welt. Etwa an meinem zehnten Geburtstag hörte dann diese Wahrnehmung auf. Damals war ich in Österreich bei einer Kinderlandverschleppung. Es war der 7. September, mein Geburtstag, und ich musste weinen, weil ich an zu Hause dachte und nicht wusste, ob ich meine Eltern je wieder sehen würde, auch ihre Briefe kamen nicht mehr durch, und ich war aus Heimweh sehr traurig. Da sagte die Heimleiterin, ich dürfe allein in den Wald gehen, um mich zu trösten. Das war in der Nähe von Kufstein, da ging man eine Schlucht hoch, und da kam ein Wasserfall runter. An diesem Tag bin ich also weinend an diesen Wasserfall getreten, weil ich solch ein Heimweh hatte, da sah ich in meinen Tränen zuerst solch ein Glitzern und dann eine riesige Geistgestalt über dem Wasserfall. Jetzt wird natürlich jemand, der das nicht sieht, sagen, ach, Du hast gesponnen oder das Glitzern war eine Illusion. Doch für mich war es eine riesengroße Gestalt, die mich sehr erinnert hatte an eine Gestalt, die ich als Kind immer sah, ein weißes Wesen, das die Augen geschlossen und mich ganz gütig begleitet. Und nur ein einziges Mal, als ich sehr in Gefahr war, von einem Gewaltverbrecher missbraucht zu werden, riss dieses Wesen die Augen auf. Da ahnte ich die Gefahr und konnte weglaufen. Mich hat das als Kind begleitet, dann kam die Pubertät, und ich merkte, dass das für mich wie eine Verfinsterung war. Mit der Pubertät kam ich in eine Körperlichkeit, die mich auch an mir selber störte. Zuerst war es faszinierend, aber es störte. Ich empfand die Pubertät wie eine Krankheit. Ich kam so richtig hier in dieser Welt an, war mit dem Hier und Jetzt und mit meinem Körper konfrontiert und fand es total bescheuert, dass ich körperlich reagierte, zum Beispiel auf den Postboten, den ich gar nicht kannte, der war nett, doch ich hatte ein körperliches Gefühl, das hat mich gestört. Ich empfand das als Versklavung meiner Instinkte. Das habe ich auch versucht, in meinem Buch zu schreiben: Eifersucht ist eine Instinkt-Reaktion, der will ich nicht folgen. Ich muss sie berücksichtigen, denn ich empfinde sie ja auch, aber ich will nicht Sklave dessen werden. Das kam mit der Pubertät sehr stark, aber das habe ich auch sehr schnell überwunden und wurde dann sehr kreativ. Ich malte dann jeden Tag ein Bild. Wenn ich mich verliebte, dann war das auf der keuschen Ebene, und mein Körper war einfach transformiert. Dann später mit diesem Gang durch den Wald, wo ich ziellos vierzig Kilometer wandere und dann Stockhausen wieder sehe, mit diesem sich Öffnen zur Liebe durften auch Erotik, Liebe zu seiner Musik und dann auch Sexualität wieder kommen, aber als Folge einer seelischen Verbindung und nicht als Reaktion auf Hormone. Als all das zusammen kam, war ich in solch einem euphorischen Zustand, dass ich sagte: Gott – Gott war seinerzeit längst aus meinem Vokabular gestrichen – Gott, Du hast mich erfüllt, weil ich merkte, da ist etwas Göttliches oder etwas Kosmisches. Bei diesem Gang durch den Wald, wo ich Stockhausen auch wieder fand, spürte ich ein Erfülltsein. Ich hatte ja eine Entscheidung zu treffen: Gehe ich links, gehe ich ins Leben, gehe ich rechts, gehe ich wieder in meine Kindheit und bin wieder in der Welt der Engel und der Wesen. Ich dachte damals, ich sei schwanger, und ich bin dann links gegangen und kam dann mitten ins Leben, dann kamen die Ehe und der ganze Trubel und – na, das steht ja alles in dem Buch. Später dann fingen diese Visionen wieder an, zunächst nur in Träumen, aber sehr intensiv. Ich habe mich an frühere Leben erinnert. Wenn mich also jemand fragt, ob ich an Wiedergeburt glaube, dann glaube ich nicht nur daran, sondern ich weiß, dass ich gestern gelebt habe, und kann das relativ gut beschreiben. So kann ich frühere Leben beschreiben, die sich mir teilweise in Träumen zeigten, teilweise in physischen Symptomen, teilweise im Wiedererkennen von Situationen, teilweise, indem ich plötzlich im Traum aufwache und Holländisch spreche, und, während ich aufwache, noch spreche, noch den Sinn und die Übersetzung weiß, und weiter aufwache und es nicht mehr weiß. Das sind alles Signale, die aus Ebenen kommen, die so viel weiter sind als mein jetziges physisches Dasein, und so hat sich mir diese Welt langsam wieder erschlossen, die ich als Kind selbstverständlich sah, aber jetzt mit dem Wissen meines pythagoreischen Lehrers. Diese Erfahrungen wurden dann sehr intensiv, vor allem in den Träumen. Es war so etwa 1973, also nach der Trennung von Stockhausen, da wurde ich jeden Morgen um drei Uhr geweckt und musste schreiben, und um meine Hand hatte ich solch einen violetten Schimmer. Solange der violette Schimmer da war, schrieb ich, automatisch. Wenn er weg war, bin ich wieder schlafen gegangen. Das war zu der Tageszeit, als die Kinder noch schliefen. Das war also ein regelrechter Auftrag von meinem früheren Selbst oder aus einer anderen Dimension, wo ich Texte und Briefe geschrieben habe und auch Dinge in meine Bilder geschrieben habe, die ich gar nicht weiß und nicht wissen kann. Aber ich hatte dann auch Einsichten gehabt. So hatte ich mal in meiner Speisekammer gestanden und einen Milchtopf oben ins Regal gestellt. Und als ich den Milchtopf vor Augen hatte, ging mir das Bewusstsein weg, und von dem Geräusch, als er wieder oben war, wachte ich wieder auf. Das waren vielleicht zwei Sekunden, aber über diese zwei Sekunden könnte ich drei Bücher schreiben. Ich habe die gesamte Funktion des Kosmos, der Galaxien, alles verstanden, und ich wusste in dem Moment, Einstein hatte nicht Recht. Wir sind nicht an die Lichtgeschwindigkeit gebunden, es geht alles auch sofort. Ich kann es bis heute nicht erklären, warum das so ist, aber in diesem Moment hatte ich es erkannt. Ich warte nur, bis es eines Tages rauskommt, er hat nicht Recht. Es gibt ein Sofortiges ohne jeden Zeitunterschied – von hier bis in die entfernteste Galaxie ist alles gleichzeitig. Sonst könnte man nicht prophezeien und in die Zukunft sehen, es muss sogar den umgekehrten Prozess geben, und das habe ich alles in diesem Moment gesehen: in zwei Sekunden. In solch einen Zustand gerate ich manchmal, aber nie gesteuert, ich kann nicht von mir aus sagen, Sesam, öffne Dich! Ich kann nur wachsam sein, wenn sich Sesam öffnet, und mich dann bereit halten. Deshalb arbeite ich zum Beispiel auch künstlerisch morgens zwischen vier und neun. Ich wache sehr früh auf und ohne zu reden, zu essen oder zu trinken gehe ich dann in mein Atelier und mache meine künstlerische Arbeit. Und wenn was kommt, dann kommt was, und wenn nicht, dann lege ich Steine oder vollziehe einen meditativen Akt und lege Steine aufeinander. Ich mache im Moment ein wunderschönes Steinbild, das bis zum Sandkorn hin immer kleiner wird, das ist fast wie eine Manie, und meine Galeristin nannte das „Zeichen frühen Irrsinns“. Aber diesen Irrsinn erlaube ich mir dann und bastele daran rum, und plötzlich habe ich eine Idee für eine andere Arbeit oder für einen Satz, den ich aufschreibe, oder eine Idee für einen Text. Und dieses Bereitsein, wenn sich Sesam öffnet, das ist wichtig. Wenn ich heute noch Kinder erziehen würde, dann würde ich denen ganz viel Zeit geben: meditative Zeit, Zeit der Stille. Ich würde die Kinder auf den Boden legen, ich würde ihnen Musik vorspielen oder ich würde sie stehen lassen. Ich würde versuchen, mit den Kindern in die Stille zu kommen, damit sie ihr eigenes Ich und ihr eigenes Bewusstsein anzapfen. Danach können sie dann ruhig wieder irgendwelchen Stoff lernen, das ist ja auch okay. Aber auch dort würde ich ihnen zuerst Geometrie zeigen und nicht Integralrechnung. Zuerst die Schönheit von geometrischen Formen und die Ordnung in der Geometrie nahe bringen, und dann erst langsam in die Welt der mathematischen Formeln vordringen, aber nicht umgekehrt. Ich würde immer mit dem Anschaulichen beginnen, dann fange ich zum Beispiel mit einem Spinnennetz an oder mit einer Blume und nicht mit irgendwelchen abstrakten Formeln. Ich hoffe, dass Erziehung in der Zukunft anders ist, und ich denke, das fordern die Kinder auch. Ich lege große Hoffnungen in diese Kinder. Es gibt natürlich auch noch die Widersachermächte, die die Kinder in den Drogen gefangen halten wollen. Die Gefahr ist, dass die Kinder in ihrer Sucht, ihrer Sehn-Sucht nach etwas Anderem, denn nichts Anderes passiert ja, wenn sich ein Kind auf der Schaukel düselig schaukelt, weil es in eine andere Dimension will, gefangen gehalten werden. Die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn führt in die Süchte. Da sehe ich eine Gefahr für unsere Jugend, dass sie das nicht erkennen. Klar, jeder säuft mal oder hascht mal und will das mal ausprobieren, das ist normal. Aber den Süchten zu verfallen, bedeutet, sich in eine Welt hinein locken zu lassen, aus der sie nicht mehr raus kommen. Da geht ganz viel verloren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, in der Technik zu verschwinden. Das sind meiner Meinung die beiden Gefahren-Pole, zwischen denen sich der heutige Mensch wie auf einer Gratwanderung bewegt: immer in Gefahr, sich in der Technik und der virtuellen Welt, dieser schnell verfügbaren Pseudo-Welt oder in der Sucht-Welt und der Illusion zu verlieren. Das sind die beiden Widersacherkräfte, durch die der Mensch durch muss.

KULTURBUCHTIPPS: Wobei ja auch die Technik selbst, ihr Gebrauch und der Konsum der Technik zu einer Sucht werden kann.

MARY BAUERMEISTER: Ja, genau! Wenn Sie heute mit Kindern sprechen, werden die nach fünf Minuten unruhig. Dann müssen die auf ihr Ding da schauen, ob irgendwas durch gekommen ist. Und schon ist der Fluss der Gedanken unterbrochen. Wenn bei mir Leute zum Offenen Sonntag kommen zwischen elf und drei, dann bleiben die Handys im Auto. Bei mir wird nicht geraucht und kein Handy benutzt. Das ist für manche Leute fast wie ein Entzug. – Aber ich glaube, ich bin jetzt abgeschweift, wo waren wir eigentlich?

KULTURBUCHTIPPS: Bei der Spiritualität.

MARY BAUERMEISTER: Ich habe also erfahren, dass ich viele frühere Leben hatte – auch nicht nur auf dieser Erde, sondern auch in anderen Galaxien und ganz anderen Existenzformen, dass hier auf Erden ein winziger Teil von mir ist, und ich habe durch eine Nach-Todes-Erfahrung erfahren, dass der Tod überhaupt das Gegenteil von dem ist, was die Menschen ihm andichten, denn der Tod ist reine Liebe. Eigentlich ist nämlich der Geburts-Akt der verengende Akt: Ein großes Selbst wird in eine winziges Inkarnation hinein gezwängt. Aber der Tod ist Erlösung. Das kleine Selbst löst sich wieder in dem großen auf. Das ist ein wunderbarer Akt der Liebe. Das habe ich einmal erlebt während einer Operation, wo ich aus meinem Körper heraus war. Da habe ich den Anfang davon erlebt, und ich freue mich unglaublich und bin sehr neugierig, wie mir der Tod dieses Mal wieder gelingt. Wird das bewusst geschehen? Werde ich ganz bewusst hinüber gehen? Ich weiß es nicht. Was steht mir noch bevor? Es kann ja auch Krankheit kommen, es kann noch Gehirnverlust kommen, es kann noch alles Mögliche kommen, aber das ist okay. – Bei mir ist im garten eine Riesen-Birke umgefallen: Jeder Andere hätte die umgesägt, aber ich habe die zwei Wurzeln mit Lehm bepackt und bewässert und eine Mauer dran gebaut, drei Wochen Cello haben wir an der Birke gespielt, und jetzt ist sie wieder aufgeblüht. An diesem Tag habe ich meine Patientenverfügung zerrissen, weil ich dachte, ist doch spannend, im Koma zu liegen, ist doch auch eine gute Erfahrung. Das kann man nur in dieser Zivilisation, in jeder anderen Zivilisation bist Du weg. Aber in unserer Zivilisation kannst Du zwischen den Welten gehalten werden. Warum sollte ich das verweigern? Warum nicht?

KULTURBUCHTIPPS: Klar, warum nicht, aber ich persönlich hätte in solch einem Fall schon Angst vor Schmerzen.

MARY BAUERMEISTER: Ich weiß natürlich nicht, ob man im Koma auch physische Schmerzen haben kann, aber man hat sicherlich Erkenntnisse. Mein Schwager kam nach drei Wochen Koma wieder und war ein anderer Mensch. Er hat dann seine letzten beiden Jahre Leben so bewusst gelebt, doch er sagte, ich kann Euch nicht sagen, was ich im Koma erlebt habe. Es war jenseits des Aussprechbaren, aber es muss von solch gewaltiger Offenbarung gewesen sein, dass er sich richtig destilliert hatte zu einem Teil des Höheren Selbsts.

KULTURBUCHTIPPS: Meine letzte Frage möchte ich zum Thema Ebooks stellen. Wie sehen Sie diese Lesegeräte? Werden Sie bald das traditionelle Buch ablösen?

MARY BAUERMEISTER: In einer Welt, wo Menschen beweglich sein müssen, wenn sie noch keine Familie haben, noch nicht sesshaft sind und durch die Welt reisen wollen und dabei nicht ihre Bibliothek mitnehmen wollen, ist das natürlich grandios. Sie können sich also überall auf der Welt alles holen. Also eine tolle Sache für die Jungen, aber es ist nicht mehr meine Welt. Ich habe selbst ein Haus, das voller Bücher ist, und ich könnte natürlich sagen, ab jetzt passt kein Buch mehr rein, aber das interessiert mich nicht mehr. Das können die Leute machen, die das Haus erben, aber das ist nicht mehr meine Welt. Ich lebe an meinem Platz, aber ich werde noch eine große Reise machen nach Südamerika, das habe ich mir noch vorgenommen. Da will ich hin ohne Rückfahrt-Ticket, denn da ahne ich aus meinen früheren Leben noch Verbindungen, denen ich noch nachgehen will. Aber da will ich auch nicht drüber reden, denn da haben sich Dinge angekündigt aus einer feinstofflichen Welt, und da muss ich noch mal hin.

KULTURBUCHTIPPS: Mary Bauermeister, vielen Dank für das lange und interessante Gespräch.

MARY BAUERMEISTER: Ich danke Ihnen.