Interview mit Harald Martenstein auf der Frankfurter Buchmesse 2011

KULTURBUCHTIPPS: Herr Martenstein, Ihr neues Buch „Ansichten eines Hausschweins“ trägt einen seltsamen Titel. Wie kam es dazu? Hat sich der Verlag diesen Titel ausgedacht oder waren Sie das?

HARALD MARTENSTEIN: Ich bin das gewesen. Denn es hat vor einiger Zeit eine Rezension in der Süddeutschen Zeitung gegeben, die sich mit meinen letzten Roman befasste, der durchweg so ganz positiv besprochen wurde und teilweise sogar sehr positiv – diese Rezension aber war ein Verriss. In diesem Verriss wurde ich als ein Hausschwein bezeichnet. Und ich dachte mir, damit gehe ich jetzt mal ganz offensiv um. Das mache ich jetzt zum Markenzeichen. Wenn man mich so bezeichnet, dann nehme ich das ganz einfach an. Schweine sind ja intelligente und sympathische Tiere, denen auch Leid und Schmerz zugefügt wird, und, so gesehen, ziehe ich mir die Schweinemaske gerne an.

KULTURBUCHTIPPS: In einer der in dem neuen Buch enthaltenen Kolumnen beschreiben Sie auch, wie Sie eine Kolumne schreiben („Über das Thema, wie eine Kolumne entsteht“), aber ich würde es trotzdem gern noch etwas genauer wissen: Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Kolumne schreiben? Wie finden Sie zu Ihren Themen? Und brauchen Sie den zeitlichen Druck, um eine Kolumne zu schreiben?

HARALD MARTENSTEIN: Da gibt es natürlich mehrere Aspekte. Erstens schaffe ich es nicht zu schreiben, ohne dass mich jemand dazu zwingt. Wenn mein Lebenswerk aus den Texten bestünde, die ich freiwillig und aus einem inneren Drang heraus verfasst habe, dann würde es sich wahrscheinlich um drei oder vier Texte handeln. Ich brauche immer jemanden, der hinter mir steht und sagt: „Wir wollen dazu was von Dir, das hast Du bis dann und dann zu liefern.“ Dann mache ich das auch – meistens. Unter einem extremen Zeitdruck zu arbeiten, liegt mir jedoch nicht. Ich habe dann das Gefühl, unter meinen Möglichkeiten zu bleiben. Das heißt, mit meinen Kolumnen für DIE ZEIT, die ich im Normalfall am Montagabend abgeben muss, beginne ich meist am Freitagmorgen mit der Arbeit. In guten Wochen schaffe ich das auch an einem Tag, dann ist die Kolumne tatsächlich schon am Freitag fertig. Aber ich habe dann eben auch noch den Samstag, Sonntag und Montag als Reserve. Manchmal nutze ich das natürlich auch aus und werfe einen Teil des Textes weg, weil er mir dumm erscheint, oder ich fange völlig neu an. – Was die Themenfindung betrifft, so habe ich mir relativ früh klar gemacht, dass ich als Kolumnist eigentlich in einer unauflösbar widersprüchlichen Situation stecke: Einerseits wollen die Leute, wenn sie regelmäßig eine Kolumne lesen, diesen gleichen Sound und die Welt des Kolumnisten immer wieder haben; deswegen mögen und lesen sie das. Andererseits stellen sich, wenn man immer das Gleiche macht, schnell Eintönigkeit und Langweile ein. Also muss ein Kolumnist im Idealfall auf immer wieder andere Weise das Gleiche produzieren, was natürlich einen kuriosen Widerspruch darstellt. Ich selbst versuche diesen Widerspruch dadurch zu lösen, indem ich möglichst unberechenbar und unvorhersehbar bin. Dazu gehört, dass ich meistens humoristisch schreibe, von Zeit zu Zeit aber auch mal was ganz Todernstes und Humorfreies schreibe. Man kann also nie sicher sein, bis man in dem Text drin ist, wie ich es diesmal meine, ob humorvoll oder ernst. Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist, dass ich mir mit der Zeit so eine Art Kommode mit verschiedenen Schubladen gezimmert habe, die ich abwechselnd aufziehe: Geschichten über meinen Sohn und mein Leben als Vater, dann Geschichten, in denen es um so genannte politisch korrekte Vorstellungen geht, zum Beispiel gegen die Radfahrer, gegen das gesunde Essen oder fürs Rauchen – all solche Dinge, die man eigentlich nicht tut. Aber ich mache das auch ganz gerne mal. – Ansonsten ist zum Kolumnenschreiben natürlich Lust etwas ganz Entscheidendes. Man muss Lust dazu haben und in der richtigen Stimmungslage sein. Manchmal setze ich mich freitags an meinen Computer, gucke in diesen Computer rein und stelle mir die Frage: „Was würdest Du jetzt gerne machen?“ Unglaublich luxuriös, denn welcher Arbeitnehmer ist schon in der Situation, dass er an seinen Arbeitsplatz geht und sich fragt: Wozu hätte ich jetzt Lust?! – Das ist also einerseits unglaublich luxuriös, andererseits aber natürlich auch schwierig.

KULTURBUCHTIPPS: Diese Freiheit kann auch belastend sein.

HARALD MARTENSTEIN: Das ist es eben: Die Freiheit macht das Leben kompliziert. Es ist natürlich viel unkomplizierter, wenn es jemanden gibt, der einem sagt, was man zu machen hat.

KULTURBUCHTIPPS: Schreiben Sie dann, nachdem Sie ein Thema gefunden haben, eine Kolumne in einem Rutsch oder benötigen Sie viel Zeit für die Überarbeitung?

HARALD MARTENSTEIN: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt tatsächlich Kolumnen, die ich in einem Rutsch runter schreibe, und nach drei Stunden ist sie fertig. Das ist der Idealfall, und das sind natürlich großartige Momente. Aber es gibt auch Kolumnen, an denen ich drei Tage rumschufte, wegschmeiße, zusammenstückele… – Es ist niemals vorhersehbar, und das ist das eigentlich Unangenehme beim Schreiben. Darüber hinaus gibt es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der Qualität der Kolumne und der Art, wie es gelaufen ist. Es gibt Kolumnen, an denen ich wirklich tagelang schufte wie im Bergwerk, sie wollen aber einfach nicht gut werden. Irgendwann ist der Moment da, an dem ich sie abgebe, und dann habe ich das Gefühl, in dieser Woche nicht die volle Leistung erbracht zu haben. Und dann gibt es Kolumnen, an denen arbeite ich auch drei Tage, aber am Ende denke ich, dass diese drei Tage Arbeit auch etwas gebracht haben und die Kolumne so geworden ist, wie ich mir das vorgestellt hatte.

KULTURBUCHTIPPS: Ihre Kolumnen zeichnen sich vor allem durch ein gewisses Zögern des Kolumnisten aus. Sie geben zu Beginn meist ein Stichwort, benennen einen Missstand und wechseln dann meist zu einem scheinbar völlig anderen Themenkreis. Dadurch halten Sie oft über mehrere Absätze, manchmal bis zum Schluss, den Spannungsbogen, bis Sie am Ende der Kolumne zum eigentlichen Thema zurück kehren.

HARALD MARTENSTEIN: Das ist richtig. Man braucht im Grunde für eine Kolumne zwei Themen, die man zusammen bringt. – Ich habe ja vor einigen Jahren angefangen zu unterrichten. An der Gruner+Jahr-Schule leitete ich ein Seminar zum Glossenschreiben, und dabei habe ich natürlich auch selbst einiges gelernt. Denn als Lehrender ist man gezwungen, über das eigene Handwerk nachzudenken und Dinge, die man bislang vielleicht instinktiv gemacht hat, zu reflektieren. Natürlich ist das auch gefährlich. Dabei ist mir klar geworden, dass ich bei jeder Kolumne versuche, immer zwei Ebenen zu haben, zwischen denen ich hin und her wechsele. Ein bisschen ist das so wie mit einem Standbein und dem Spielbein. Es muss immer auf einer Ebene scheinbar um etwas gehen, aber in Wirklichkeit um etwas ganz Anderes gehen. – Ein ergiebiger Ausgang zum Schreiben ist für mich auch, wenn ich feststelle, dass der ganze Strom der öffentlichen Meinung nur in eine einzige Richtung geht. Dann kann es sehr sinnvoll und inspirierend sein, wenn man sich fragt: „Was ist eigentlich, wenn die sich alle irren und überhaupt nicht stimmt, was alle sagen?“ Lasst mich doch mal versuchen, etwas außerhalb davon einen Beobachtungspunkt zu finden und das Ganze aus einem ganz anderen Winkel zu betrachten. So hatte es zum Beispiel mal eine Phase geben, als alle, alle, alle auf Guido Westwelle herum hackten. Das war für mich solch ein Signal darüber nachzudenken, wie man eine positive Kolumne über Westerwelle schreiben könnte. Das wäre etwas Anderes gewesen und auch überraschend, aber ich bin daran gescheitert, es ist mir nicht gelungen. Aber ich hatte tatsächlich in meinem Computer drei, vier Anfänge einer „Westerwelle-Verteidigungs-Kolumne“ gehabt.

KULTURBUCHTIPPS: Das bewusste Schreiben gegen den Mainstream ist also eine Quelle der Inspiration. In ähnlicher Weise hätten Sie auch versuchen können, eine Kolumne über den Freiherr zu Guttenberg und die Vorzüge des Plagiats zu schreiben.

HARALD MARTENSTEIN: Genau. So etwas ist eine ergiebige Position.

KULTURBUCHTIPPS: Ihre Kolumnen behandeln ja oft politische und gesellschaftliche Themen. Überwiegend sind sie im Großstadtmilieu angesiedelt. Sie selbst sind ja in Mainz geboren, leben aber seit vielen Jahren in Berlin – und hier auch noch in einem der lebendigsten Bezirke, in Kreuzberg. Ich frage mich, wie viel Großstadt steckt in Martensteins Texten – oder anders gefragt: Würden Sie dieselbe Art von Kolumnen schreiben können, wenn Sie in Mainz lebten oder gar in der ländlichen Uckermark, wo Sie ein Ferienhaus haben?

HARALD MARTENSTEIN: Na, in der Uckermark schreibe ich ja manchmal meine Kolumnen. Aber es stimmt, ich brauche die Großstadt für meine Themen. Aber ich brauche natürlich auch die Medien der Großstadt, die solche Texte drucken: Ich bezweifle, dass das, was ich mache, bei der Regionalzeitung einer Mittelstadt gedruckt worden wäre. Jetzt vielleicht schon, weil ich einen gewissen Namen habe. Wenn ich jedoch jetzt als Nobody mit meinen Texten da ankäme, würden die garantiert nicht genommen. Zum Beispiel die Allgemeine Zeitung in meiner Heimatstadt Mainz hätte diese Kolumnen wohl nicht genommen, weil sie ihnen irgendwie zu schräg vorgekommen wären. – Ich brauche also eine Großstadt mit einer Medienlandschaft, in der mehr möglich ist, in der man ein breiteres Spektrum hat und in der es auch zahlenmäßig ein starkes Bildungsbürgertum, wie immer man das auch nennen mag, gibt.

Berlin ist da schon meine Stadt. Ich habe mich dazu entschieden, da zu leben, und ich wollte da immer hin. Nach meinem Abitur bin ich jedes Jahr für ein, zwei Wochen in Berlin gewesen. Ich hatte damals noch einen Job in Stuttgart, aber mein ziel war eben, irgendwann in Berlin zu leben. Seinerzeit las ich in einer Stellenanzeige in der ZEIT, dass der TAGESSPIEGEL einen Redakteur suchte, ich bewarb ich und wurde dann auch genommen. Es war also kein Zufall, dass ich nach Berlin kam, sondern ich wollte das. Zwischendrin habe ich noch ein Jahr in München gelebt, aber sehr schnell gemerkt, dass ich für ein Leben in München vollkommen ungeeignet bin und auch das gesellschaftliche Klima mir in München überhaupt nicht entgegen kommt.

KULTURBUCHTIPPS: Was meinen Sie genau?

HARALD MARTENSTEIN: Das Harte, Raue und Schnoddrige, das ist ja kein Klischee, sondern so ist ja Berlin wirklich, irgendwie. Daran habe ich mich aber sehr schnell gewöhnt. Jedoch auf diesen sehr indirekten, weichen, aber auch schwer zu durchschauenden Münchner Stil konnte ich mich nicht umstellen. – In Berlin musst du einfach damit rechnen, dass Dir jemand sagt, Du bist ein Arschloch. Das kann Dir dort jederzeit passieren, und in München kann Dir das nicht passieren. Aber Du weißt dann wenigstens, was dieser Typ von Dir hält.

KULTURBUCHTIPPS: In München erfährt das dann erst über zwei, drei Ecken.

HARALD MARTENSTEIN: Genau. Und in Berlin weißt du’s einfach direkt. Das ist mir irgendwie lieber. Es ist schon so, ich liebe wirklich diese Stadt, und es müsste schon sehr viel passieren, damit ich von dort wieder weg ginge. Ich kann mir immer vorstellen, mal ein paar Monate woanders zu sein, aber ich würde immer wieder dorthin zurück gehen.

KULTURBUCHTIPPS: Wenn Sie die Großstadt und insbesondere Berlin so lieben, wie sind Sie denn dann darauf gekommen, sich ein zweites Domizil in der Uckermark zu suchen? Dient das beschauliche Landleben als Gegengewicht zum Großstadtleben und seiner Hektik?

HARALD MARTENSTEIN: Ich habe mir vor einiger Zeit angewöhnt, mich zum Schreiben zurück zu ziehen. Zum Schreiben brauche ich irgendwie meine Ruhe. Ich bin dann manchmal weg gefahren, ich habe auch mal ein Buch auf Mallorca geschrieben, habe mir da für sechs Wochen ein Zimmer gemietet in der Nebensaison, wo das nicht so teuer ist. Es war also immer so, dass ich mich abnabeln musste fürs Schreiben. Ich lasse mich auch gerne ablenken, wenn zum Beispiel Freunde sagen, komm’ mit und lass’ uns doch ins Kino gehen, dann mache ich das gerne mit, und dann ist das nicht gut für das Projekt. Und so brauchte ich also ein Quartier, das außerhalb von Berlin liegt, wo ich wirklich Ruhe habe. Jahrlang habe ich dann also geguckt in Brandenburg, und es ist fast so eine Art Hobby geworden. Zwei Mal im Monat habe ich dann solche Ferienhäuser, Datschen oder Lauben im Computer gefunden, bin dann so dahin gefahren und habe auch die Gegend erkundet. Auf diese Weise habe ich auch Brandenburg so ein bisschen kennen gelernt. Und bei einem Objekt hat’s dann eben mal geschnackelt, und so bin ich dann in der Uckermark gelandet. Das ist solch ein kleines Haus, in dem man auch im Winter sein kann. Dort habe ich auch meinen letzten Roman („Gefühlte Nähe“) so im Wesentlichen geschrieben. Wenn ich größere Projekte habe, dann fahre ich dahin und bleibe dann mal eine Woche oder auch zwei Wochen am Stück und arbeite. Und wenn ich mal nicht mehr in die Redaktion gehen muss, dann werde ich in Berlin vielleicht noch eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung haben, aber immer mit der Perspektive, dass man jederzeit nach Berlin fahren kann.

KULTURBUCHTIPPS: Sie hatten eben schon erwähnt, dass Sie Ihren letzten Roman („Gefühlte Nähe“) überwiegend dort geschrieben haben. Mich würde mal interessieren, wie Sie im Unterschied zu den Kolumnen an ein solches Buch-Projekt herangehen? Wie finden Sie das Thema, wie entsteht der Plot? Manche Autoren gehen von einem einzigen Satz aus und lassen sich dann von der Geschichte selbst fort tragen, andere wieder brauchen ein ganz klares Konzept, einen Überblick über alle Personen und Handlungsstränge, also eine feste Struktur mit einzelnen Kapiteln, bevor sie schreiben können. Wie ist das bei Ihnen?

HARALD MARTENSTEIN: Bei meinem letzten Roman „Gefühlte Nähe“ war der Ausgangsgedanke, dass ich etwas über Liebe, Partnerschaft oder Sexualität schreiben wollte, weil das ein Thema ist, das ich in meinen Kolumnen ausspare. Das ist zu intim, zu privat, und das behandele ich in den Kolumnen nicht oder nur sehr am Rande, darüber wollte ich aber mal schreiben. Ich wusste, dass dies ein Feld ist, auf dem ich noch nicht geackert habe, das aber interessant ist; das war der erste Schritt. Der zweite Schritt war, dass ich auch schon im vorigen Roman („Heimweg“) versucht hatte, bundesdeutsche Geschichte und Familiengeschichte gleichzeitig zu erzählen und beides miteinander zu verbinden. Das wollte ich wieder machen, wollte also eine deutsche Geschichte schreiben, die im Hintergrund abläuft, und diese mit etwas Privatem verbinden. Natürlich ist klar, dass Liebe das Weltliteratur-Thema Nummer eins ist; aber die Frage, die ich mir stelle, ist, was an der Liebe heute anders ist als an der Liebe vor dreißig, vierzig, fünfzig oder hundertfünfzig Jahren. Ich bin dann zu der Überzeugung gekommen, dass es das Fragmentarische ist, also dass immer weniger Leute diesen „Lebensmenschen“ haben, den es in der Generation meiner Großeltern noch gegeben hat, bei meinen Eltern schon nicht mehr – meinen Eltern hatten sich geschieden, noch als ich Kind war -, und ich kenne fast niemanden, der irgendwann mit zwanzig einen Menschen gefunden hat, und jetzt – vierzig Jahre später oder so – immer noch mit diesem Menschen zusammen ist. Meine Großeltern zum Beispiel sind kurz hintereinander gestorben und waren sechzig Jahre miteinander verheiratet, obwohl die gar nicht so gut miteinander klar kamen und sich in heutiger Zeit wahrscheinlich hätten scheiden lassen – aber damals machte man das einfach nicht. – Solch einen Lebenslauf von heute wollte ich beschreiben. Also einen Lebenslauf, der aus lauter Anläufen besteht und sich einen Lebensmensch aus ganz vielen Facetten zusammen setzt. Wenn man dann eines Tages stirbt, hat man so eine Art virtuelle Witwen- oder Witwer-Gemeinschaft, die am Grab steht, und nicht den einen „Lebensmenschen“.

KULTURBUCHTIPPS: Diese Idee ist ja auch sehr spannend im Roman umgesetzt: die Hauptperson „N“, die niemals selbst zu Wort kommt und nur durch die Augen ihrer vielen Partner gesehen und beschrieben wird.

HARALD MARTENSTEIN: Ich scheine wohl etwas vertracktere Kompositionen zu mögen; denn auch in meinem ersten Roman („Heimweg“) hatte ich auch mit verschiedenen Ebenen gearbeitet, was letztlich zur Folge hat, dass ich mir für meinen nächsten Roman, den ich im kommenden Jahr schreiben möchte, vorgenommen habe, zur Abwechslung einmal etwas ganz Konventionelles auszuprobieren – also eine Geschichte ohne Fisimatenten, mit einer Hauptfigur und von Anfang bis zum Ende ganz linear durch erzählt. Das habe ich in meinen beiden ersten Romanen nicht gemacht, und das will ich einfach mal ausprobieren. – Weil Sie mich vorhin fragten, wie ich zu meinen Themen und Geschichten komme: Bei meinen nächsten Roman ist der erste Schritt die Konstruktions-Entscheidung gewesen. Die Entscheidung also, dass ich eine Geschichte kontinuierlich und linear erzählen und ein oder zwei Hauptfiguren haben möchte. An erster Stelle stand dieses Mal die Konstruktion und erst dann kam die Frage nach dem Thema. Und beim Thema war mir auch klar, dass sich auch in diesem Roman wieder die politische und Alltags-Geschichte mit der privaten Geschichte vermischen soll. Mein erster Roman („Heimweg“) war eine Geschichte über das Nachkriegsdeutschland und über das Kriegstrauma Heimweh, das zweite Buch war so ein 68er-Roman über die sexuelle Revolution, wenn man so will.

KULTURBUCHTIPPS: Steckt in dem letzten Buch eigentlich auch viel Autobiographisches?

HARALD MARTENSTEIN: Nicht sehr. Es gibt so drei, vier Kapitel, die mit Autobiographischem unterfüttert sind; aber es gibt auch viele Kapitel, die wirklich völlig frei erfunden sind. Also autobiographisch im klassischen Sinne ist es nicht. Da war der erste Roman „Heimweh“ näher an der realen Familiengeschichte meiner Großeltern dran. Und jetzt nach 68 müsste im dritten Buch eigentlich irgendetwas über die 80er Jahre kommen. – Und so arbeite ich: Ich entscheide mich für eine Geschichte, ich entwerfe die Geschichte und lege Karteikarten an – Anfang, Ende, die einzelnen Kapitel – das heißt, das Buch ist so fertig konstruiert, bevor ich anfange zu schreiben.

KULTURBUCHTIPPS: Wenn Sie also anfangen zu schreiben, wissen Sie auch schon, wo das Ganze einmal endet.

HARALD MARTENSTEIN: Na ja, so ungefähr jedenfalls. Wobei man das im Produktionsprozess auch öfters mal umschmeißt. Es ist sehr beruhigend, eine Vorstellung davon zu haben, wo man hin will und was man machen will; aber manchmal merkt man auch, das schreibt sich in eine andere Richtung, und dann baut man das halt ein bisschen um.
KULTURBUCHTIPPS: Wie sieht es denn beim Schreiben eines Romans mit der Motivation aus? Denn um einen Roman zu schreiben, bedarf es doch einer viel stärkeren Motivation als zum Schreiben einer Kolumne.

HARALD MARTENSTEIN: Das ist für mich wirklich sehr schwierig. Ich bin ein Kurzstreckenläufer, ein Sprinter, dem man sagt: „Jetzt lauf’ mal einen Marathon“. – Ich habe gelernt, dass die Frustration, die sich beim Langstrecken-Schreiben irgendwann einstellt, und der Zweifel, ob ich das richtige Thema gewählt habe, sehr schwierig zu handhaben sind. Ich habe bei beiden Romanen so eine Krise gehabt und zwar immer so ungefähr nach einem Viertel der Strecke. Das sind ja jeweils so ungefähr 220 Seiten gewesen. Man hat also sechzig Seiten geschrieben und weiß, dass man noch sehr viel vor sich hat, man hat noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Man fängt aber auch schon an, so ein bisschen müde zu werden und fragt sich, ob die Motivation wirklich reicht – das ist dann so der Punkt, an dem man sich fragt: Setze ich jetzt neu an? Das habe ich dann bei meinem ersten Roman auch tatsächlich gemacht: Ich hatte sechzig Seiten geschrieben, dann wieder neu angesetzt und noch einmal von vorne angefangen.

KULTURBUCHTIPPS: So nach sechzig Seiten kommen einem also die ersten Seitenstiche beim Schreiben…

HARALD MARTENSTEIN: Ja, genau. Ich hatte meinen ersten Roman angefangen, in derselben Tonlage zu schreiben, in der ich Kolumnen verfasse, also, im Grunde genommen, eine Kolumne als Roman zu schreiben. Dann habe ich irgendwann gemerkt, dass das überhaupt nicht funktioniert und sehr ermüdend wird, weil es viel zu schnell ist für die lange Strecke, und dass ich einen ganz anderen Duktus brauche. Diese sechzig Seiten habe ich dann wirklich weg geworfen. Ich finde, dass eine der wichtigsten Sachen, die man beim Schreiben können muss, das Wegschmeißen ist. Wenn man das nicht kann, kommt man in Schwierigkeiten. Man muss in der Lage sein, sich auch von Sachen zu trennen, die einem lieb geworden sind – ganz im Sinne von „Kill your darlings“.

KULTURBUCHTIPPS: Wie ist es Ihnen dann gelungen, am Ball zu bleiben? In welcher Phase haben Sie einen Verlag kontaktiert – oder hatten Sie eine Literaturagentur, die auf Sie zugekommen ist?

HARALD MARTENSTEIN: Ich brauche ja, wie gesagt, den äußeren Druck. Und so bin ich schon ein Kind des so genannten Agenten-Wesens in der Literatur. Die Agenten schwärmen aus und gucken, welche Autoren sind in den Zeitungen vorhanden und welche halten sie für interessant. In meinem Fall war das eine Agentur, die auf mich zukam und fragte, ob ich mir vorstellen könne, einen Roman zu schreiben. Ich sagte natürlich: „Vorstellen kann ich mir vieles…“, und dann hatte ich etwas später einen Vertrag in der Tasche, in dem stand, dass ich achtzehn Monate später einen Roman abzuliefern habe, und so bin ich dazu gekommen. Und so gibt es ganz unterschiedliche Motive – Leute haben auch schon Romane geschrieben, weil sie dringend Geld brauchten. Bei mir war es eben der Weg über den Agenturvertrag. Das Handwerk des Schreibens hatte ich ja bereits über viele Jahre praktiziert, da traue ich mir auch etwas zu, und ob ich das bei dieser langen Form hinkriegte, würde sich zeigen – aber das zeigt sich ja bei jedem Autor erst beim Schreiben selbst, ob er das kann oder nicht.

KULTURBUCHTIPPS: Gehen wir mal ganz weit in die Vergangenheit zurück: Wann wussten Sie, dass Sie schreiben möchten? Gab es da ein bestimmtes Erlebnis, einen Zeitpunkt, an den Sie sich erinnern?

HARALD MARTENSTEIN: Ich habe ganz am Anfang Schülerzeitung gemacht und da geschrieben, nach der Schule ein Lehramts-Studium angefangen und gedacht, das ich vielleicht Lehrer werde. Meine ersten Erfahrungen, als ich so vor einer Klasse stand, waren jedoch wenig ermutigend. Allein das frühe Aufstehen und mich da schon um acht Uhr morgens zu produzieren, das hat mir echt Mühe bereitet. Ich hatte Geld gebraucht und weil ich nicht so viel gekriegt habe, habe ich mich als freier Mitarbeiter bei Lokalzeitungen beworben. Das war damals noch so eine paradiesische Zeit, in der man tatsächlich genommen wurde; dann durfte ich für die so Lokaltermine machen und habe dafür Geld gekriegt. Damals habe ich gemerkt, dass mir das leicht fällt und auch Spaß macht. So bin ich dann nach und nach weg geglitten von dem Berufziel Lehrer und habe begriffen, dass das etwas ist, was mir so viel Spaß macht und leicht genug fällt, dass ich das als Beruf machen möchte. Es hat ja keinen Sinn, etwas zu tun, was einem überhaupt nicht liegt. Ich war dann viele Jahre Lokalredakteur und habe wirklich diese Geschichten vom Kleintierzüchterverband geschrieben – all dieses Zeug. Irgendwann bin ich dann aufs Glossen- und Kolumnen-Schreiben gekommen, aber wirklich erst so mit vierzig ungefähr.

KULTURBUCHTIPPS: Wann erschien dann Ihre erste Kolumne?

HARALD MARTENSTEIN: Bei der ZEIT im Jahr 2002. Davor habe ich aber auch schon beim TAGESSPIEGEL Kolumnen geschrieben. So sind die von der ZEIT auch auf mich gekommen.

KULTURBUCHTIPPS: Letzte Frage: Auf der Buchmesse reden alle von Ebooks. Was halten Sie persönlich von Ebooks und welche Entwicklungen prognostizieren Sie für den Buchmarkt im Allgemeinen?

HARALD MARTENSTEIN: Das Ebook wird natürlich einen gewissen Platz im Markt erobern, keine Frage. Aber die Erfahrung lehrt, dass neue Medien oder neue Maschinen das Alte niemals vollständig zum Verschwinden gebracht haben. Das Fernsehen hat das Kino und das Radio nicht vernichtet, das Kino ist geblieben, das Radio ist geblieben, das Fernsehen ist geblieben. Und das gedruckte Buch wird auch nach der breiten Einführung des Ebooks bleiben. Denn das gedruckte Buch hat einfach Vorteile, die das Ebook niemals haben wird: Man kann es in der Badewanne lesen, man kann es ohne Weiteres verleihen, man kann anfassen, in den Bücherschrank stellen – da fallen mir tausend Vorteile ein, die das gedruckte Buch vor dem Ebook hat. Deswegen glaube ich, der Buchmarkt wird kleiner werden, ganz klar, und das Ebook schneidet sich eine Scheibe davon ab; aber es wird weiter gedruckt werden wie eh und je. Ich selbst werde vielleicht im nächsten oder übernächsten Jahr mal ein Ebook machen, denn ich habe viele Reportagen und Essays, und daraus könnte man so einen Sammelband machen. Vielleicht probiere ich das ja als Ebook aus. Wir werden das irgendwie machen müssen. So wie wir uns aufs Internet eingestellt und Videoblogs gemacht haben, so werden wir uns auch auf die Ebooks einstellen müssen. Letztendlich ist der Literaturbetrieb ja auch nur ein Markt, an den sich der Autor eben anpassen muss, wenn er überleben will.

KULTURBUCHTIPPS: Es wird wohl eine Entwicklung sein, die sich über mehrere Jahre hinziehen wird und vor allem wohl zunächst von den jungen Lesern schneller antizipiert wird als von den Älteren, die noch stärker durch das gedruckte Buch medial sozialisiert wurden als die Jungen, die von klein auf mit Internet und Computern aufgewachsen sind.

HARALD MARTENSTEIN: Ich denke auch, dass ich wohl nie als Leser zum Ebook wechseln werde.

KULTURBUCHTIPPS: Danke für dieses schöne Schlusswort und das anregende Gespräch.

HARALD MARTENSTEIN: Ich danke Ihnen.