Ruth Klüger hatte in den 1990er Jahren mit ihrer Biografie „weiter leben“ über ihre Kindheit im Wien der Dreißiger Jahre und über die traumatischen Erlebnisse im Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz geschrieben. Ihr Buch fand international große Beachtung und machte Ruth Klüger zu einer bekannten Schriftstellerin.
Im zweiten Teil ihrer Memoiren, wenn der romantisierende Ausdruck für die Aufzeichnung dieses bewegten und von vielen Hindernissen gezeichneten Lebens erlaubt ist, erzählt die Autorin von der Zeit ihrer Emigration in die USA 1947 bis zu Besuchen ihrer alten Heimat Wien in heutiger Zeit.
Einfach hatte es Ruth Klüger als Frau und Jüdin im Amerika der Nachkriegszeit nie. Zunächst unglücklich verheiratet, dann nach der Scheidung mit dem Kind allein lebend, sehr spät ein Studium Bibliothekswissenschaften und Germanistik an der University of California in Berkeley aufnehmend, um später dann nach dem Abschluss zum Master of Arts doch noch als Professorin für Germanistik zu reüssieren.
Von 1980 bis 1986 war Ruth Klüger Professorin an der Princeton University und danach Professorin für Germanistik an der University of California in Irvine sowie seit 1988 Gastprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen.
Dieser Erfolg war schwer erkämpft. Immer wieder zieht sich durch das ganze Buch die Erfahrung Ruth Klügers, dass sie „als Frau und Jüdin“ anders behandelt wurde als ein Mann und Nicht-Jude mit derselben Qualifikation. Diese Konstellation (Frau und Jüdin) ist Ruth Klügers Thema.
So wandert sie mit dem Leser auch immer wieder in Gedanken zurück in die Zeit ihrer Kindheit, wird nachdenklich über das Verhältnis zu ihrer Mutter, zeigt rückblickend Wegkreuzungen ihres Lebens auf und macht deutlich, dass es nur eine richtige Art zu leben gibt: dass man sich entscheiden muss und dann diese Entscheidung mit aller zur Verfügung stehenden Kraft verfolgen muss.
Seit vielen Jahrzehnten hat sie „nur einen deutschen Freund“, wie sie mehrfach betont. Zu sehr ist Deutschland auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sie das Land der Täter, der Mörder und ihrer Mitläufer. Dieser einzige Freund ist Martin Walser, den sie als Schriftsteller sehr schätzt und der ihr auch den Rat gibt und sie drängt, ihre Aufzeichnungen zu veröffentlichen.
Dank Martin Walsers Drängen erschien 1992 im damals noch kleinen Wallstein-Verlag „weiter leben“, der erste Teil der Autobiografie. Mit großem Erfolg bis hin zur überschwänglichen Rezension des Buches im „Literarischen Quartett“ von und mit dem Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki.
Doch die Freundschaft nahm ein jähes Ende, als Martin Walser mit „Tod eines Kritikers“ einen Roman veröffentlichte, in der er zwar verschlüsselt, aber doch zweifellos erkennbar, eben jener jüdischen Kritiker Marcel Reich-Ranicki zur zentralen Hassfigur der Handlung wird.
Diese antisemitische Entgleisung Walsers, die mit dichterischer Freiheit nicht mehr erklärbar ist und sowohl gegen den guten Geschmack als auch derart gegen die Political Correctness verstößt, war für Ruth Klüger (vor allem als Frau und Jüdin) nicht mehr tragbar. Sie fühlte sich zu einer klarstellenden Rezension in Form eines Offenen Briefes an Martin Walser in der FAZ verpflichtet. Diese Rezension musste zwangläufig den Bruch zwischen den beiden bedeuten und beendete diese Freundschaft bis heute.
Ruth Klüger hatte so überraschend ihre langjährigen Freund Martin Walser „unterwegs verloren“. Auch von diesem traurigen Kapitel berichtet die Autorin in diesem zweiten Teil ihrer autobiografischen Erinnerungen ausführlich.
Die Sprache der Autorin ist klar, unverblümt und zeigt von einer hohen Authentizität. Hier werden die Dinge beim Namen genannt, auch wenn es sich um unangenehme Themen handelt.
Daher liest sich „unterwegs verloren“ nicht nur wie eine faszinierende Fortsetzung des ersten Teils „weiter leben“, sondern kann auch für sich allein als ein Zeitdokument der amerikanischen und europäischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen werden.
Ruth Klüger ist eine interessante, eine tapfere und eine kämpferische Frau. Sie hat sich zeitlebens für die Rechte von Frauen eingesetzt; sie war schließlich auch immer selbst betroffen von den Widerständen der chauvinistischen universitären Strukturen, wie sie damals auch in den USA vor allem an den Elite-Unis herrschten. Somit ist ihr beruflicher und akademischer Erfolg ist ein deutlicher Beweis ihrer Stärke und Durchsetzungskraft.
Lesen Sie „unterwegs verloren“ und lernen Sie eine Frau kennen, die ihren Weg trotz aller Widerstände gemacht hat und deren Erfolg den Nachgeborenen zeigt, dass es letztlich immer auf einen selbst ankommt, was man aus seinem Leben macht. Egal, wie gut oder schlecht die eigenen Lebensumstände zu Beginn des Lebens sein mögen.
Autor: Ruth Klüger
Titel: „unterwegs verloren“
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423139137
ISBN-13: 978-3423139137