Éva Fahidi: „Die Seele der Dinge“

Éva Fahidi wuchs in Debrecen geboren und wuchs in guten Verhältnissen als Teil einer großen Familie in Ostungarn auf. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit und zeigte eine große musische Begabung. Sie wollte Pianistin werden, doch mit achtzehn Jahren wandte sich ihr Lebensweg auf brutale Weise: Sie wurde zwangsdeportiert und kam als junge Frau nach Auschwitz-Birkenau und danach ins Zwangsarbeiterlager Münchmühle im hessischen Städtchen Allendorf. Dort musste sie vom August 1944 bis zur Befreiung im März 1945 unter menschenunwürdigen Bedingungen mit chemischen Kampfstoffen hantieren.

Diese Zwangsarbeit dauerte nur einige Monate, keine lange Zeit also, aber lange genug, um ihr leben für immer zu verändern. Der Lebens verändernde Einschnitt spielte sich auf der Rampe des in Auschwitz ankommenden Zuges ab. Die gesamte Familie wurde in dieses KZ verschleppt:

„In der Morgendämmerung des 1. Juli 1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau war meine Jugend vorbei. Alles wurde mit einer Handbewegung zunichte gemacht, mit der Handbewegung, durch die Mengele mich auf die eine, meine Eltern und meine Schwester auf die andere schickte.“ Éva Fahidi kam nach Allendorf, der Rest der Familie wurde in Auschwitz ermordet.

Nach jahrzehntelangem Schweigen in ihrer ungarischen Heimat, in der man aus guten Gründen von der dunklen Vergangenheit nichts wissen wollte (viele Ungarn waren maßgeblich und aktiv am Holocaust der Juden in Ungarn beteiligt), brach Éva Fahidi nach einem erneuten Besuch in Auschwitz ihr Schweigen und schrieb ihre Erinnerung auf, damit das von ihr Erlebte nicht in Vergessenheit gerät.

„Nur der Ordnung halber erwähne ich hier Folgendes (…): Es hat neunundfünfzig Jahre gedauert, bis endlich ein ungarischer Ministerpräsident aussprach, dass es Ungarn waren, die den Holocaust ihrer fast sechshunderttausend jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen organisiert haben. Genau so viel Zeit musste vergehen, bis in Ungarn ein Holocaust Gedenkzentrum eingerichtet wurde. Das erübrigt jeden Kommentar.“

Der Besuch in Auschwitz 2003 war traumatisch, allerdings auf eine ganz andere Weise als sie es selbst erwartete. Sie hatte die berechtigte Angst, alles noch einmal erleben zu müssen und von ihren eigenen furchtbaren Erinnerungen überwältigt zu werden. Doch es kam ganz anders:

„Was ich sah, berührte mich nicht. Auschwitz war zur Touristenattraktion geworden. Das wahre Auschwitz kam nicht zum Vorschein.“ Alles wirkt im Vergleich zu damals so geleckt und wohl geordnet, ja selbst die Ruinen der gesprengten Krematorien stehen in Reih und Glied wie in einem Barockgarten.

Fahidi kommt zu dem Schluss: „Hier bin ich nie in meinem Leben gewesen“. Auf diese Erkenntnis jedoch folgt die Angst vor dem vergessen. Was, wenn die Nachwelt nur noch diese aufgehübschten Erinnerungsorte kennt, an denen man zwar Architektur und Zeitgeschichte betrachten, sie jedoch nicht mehr mit den persönlichen Berichten der Überlebenden in Zusammenhang bringen kann?

Éva Fahidi sah es als ihre Pflicht an, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und den Nachgeborenen zu erzählen. Ihr ungarischer Verleger übte einen sanften, unterstützenden Druck aus, und die Einladung zu einer Gedenkveranstaltung nach Stadtallendorf in 2004 waren Ausschlag gebend für die Entstehung dieses Buches.

„Anima rerum“, so der lateinische Titel der ungarischen Ausgabe von „Die Seele der Dinge“ erschien in Ungarn 2005 und jetzt endlich auch auf Deutsch. Éva Fahidi wuchs dreisprachig auf: Ungarisch, Slowakisch und Deutsch waren wurde in ihrer großen Familie gleichberechtigt gesprochen, schließlich wohnte man im ungarischen Herzland Österreich-Ungarns.

Nach der Befreiung des Zwangsarbeiterlagers Münchmühle kehrte Éva Fahidi schnell nach Debrecen zurück. Sie war die einzige Überlebende ihrer Familie, und das neue kommunistische System in Ungarn nahm sie nicht mit offenen Armen auf, im Gegenteil. In der Zeit der kommunistischen Schauprozesse wurde sie schnell zum so genannten „deklassierten Element“ und musste als Hilfsarbeiterin im Aufbau der Stadt Sztálinváros (heute Dunaújváros) schuften. Doch sie blieb in Ungarn – bis heute.

Sie arbeitete nach 1956 im staatlichen Außenhandel und nach der Wende 1989 in einem eigenen Außenhandelsunternehmen.

Heute lebt Éva Fahidi in Budapest und sieht gerade die letzten politischen Entwicklungen Ungarns mit großer Sorge. Wieder werden die ethnischen Minderheiten zur Zielscheibe rechtsradikaler Angriffe, diesmal sind es nicht in erster Linie Juden, sondern Sinti und Roma, die beschimpft, verfolgt und mitunter sogar getötet werden, mit mehr oder weniger offener Billigung durch die neue rechtspopulistische Regierung in Budapest. Dass so etwas im 21. Jahrhundert mitten in Europa wieder möglich ist, beschämt Éva Fahidi und macht sie wütend.

In „Die Seele der Dinge“ geht es aber um ihre eigene Geschichte. Es geht um die Erinnerungen an die schöne Kindheit und das unbeschwerte Leben mit der kleinen Schwester und den Eltern in Debrecen. Die Familienmitglieder werden in den liebevollen Beschreibungen der Autorin lebendig, und man kann sich gut vorstellen, wie furchtbar und verheerend der Einbruch in diese Familienidylle gewesen sein muss, der durch die politischen Verwerfungen der 1930er und 1940er Jahre ausgelöst wurde.

Je mehr die Autorin erzählt, desto mehr wird das Aufschreiben der Erinnerungen zur eigenen Spurensuche. Wer bin ich? Wo war ich? Und bin ich noch dieselbe, die ich schon immer war?

„Wer Auschwitz-Birkenau überlebt hat, hat zwei Leben. Ein Leben vor Auschwitz und ein Leben nach Auschwitz.“ Die Zeit in Auschwitz selbst jedoch ist kein Leben. Es wird bewusst oder unbewusst ausgeblendet. Zu unerträglich, zu unfassbar und unverarbeitbar sind die Erlebnisse, die mit dem Aufenthalt in diesem Vernichtungslager verbunden sind.

„Die Seele der Dinge“ fesselt den Leser durch die Aufrichtigkeit der Sprache von Éva Fahidi. Während der Lektüre wird man Zeuge dieses „Selbst-Wiederfindungs-Prozesses“ der Autorin. Éva Fahidi spricht auch heute noch sehr gut Deutsch, doch die hervorragende Übersetzung dieses in ungarischer Sprache verfassten Manuskripts ist der ausgezeichneten und einfühlsamen Arbeit der Übersetzerin Doris Fischer zu verdanken.

Dieses Buch wird unsere Sicht auf den Holocaust nicht grundlegend ändern, sondern liefert einen weiteren Baustein zum Gebäude der Erinnerung an den Holocaust. Es ist das bewegende Zeugnis eines persönlichen Schicksals, das eng mit der deutschen und der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden ist.

Autor: Éva Fahidi
Titel: „Die Seele der Dinge“
Gebundene Ausgabe: 239 Seiten
Verlag: Lukas Verlag
ISBN-10: 3867320985
ISBN-13: 978-3867320986

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