Peter Stamm: „Seerücken – Erzählungen“

Es sind keine Geschichten des offensichtlichen Scheiterns, des stummen Zerbrechens an den widrigen Umständen oder des Versagens mit all seinen Konsequenzen. Sondern es sind genaue Beschreibungen von Menschen, die an eine Weggabelung angelangt sind und genau wissen, dass eine grundlegende Entscheidung von ihnen verlangt wird, ein Links oder Rechts, ein Ja oder Nein, ein Dafür oder Dagegen. Die Entscheidung wird kommen, entweder indem die Figuren sie selbst fällen oder indem sie abwarten, wie von Anderen gehandelt und über sie entschieden wird. Allein das unmittelbare Bevorstehen einer Entscheidung ist gewiss, der Ausgang bleibt jedoch offen.

Die Zartheit und Vorsicht des Autors bei seinen Beschreibungen sowie der psychologische Blick sowohl nach außen als auch nach innen, all das erinnert an große Erzähler der Vergangenheit, vor allem an Henrik Ibsen und an Marcel Proust. Und vielleicht ist auch am besten mit den Worten Marcel Prousts beschrieben, was sich Peter Stamm von seinen Lesern wünscht: dass sie zu „Lesern ihrer selbst“ werden. Auch Proust wollte ein Buch schreiben, durch das er ihnen ermöglichen würde, „in sich selbst zu lesen“.

Peter Stamm schreibt Geschichten, die den Leser beschäftigen und zum Nachdenken anregen. Der Blick soll sich vom Blatt lösen und in die Weite schauen. Der Impuls zum Weiterdenken der Geschichte der Protagonisten in den Erzählungen, aber auch der eigenen Geschichte des Lesers, wirken unmittelbar während und nach der Lektüre dieses Buches.

Peter Handke schrieb einmal: „Die besten sind jene Bücher, die einen immer wieder dazu bringen, innezuhalten, aufzuschauen, in die Gegend zu schauen, tief einzuatmen, sich von der Sonne bescheinen zu lassen – auch wenn diese gar nicht scheint.“ Peter Stamm kann diesen Effekt bei seinen Lesern auslösen.

In dem neuen Erzählband mit dem angenehm unmodern wirkenden Titel „Seerücken“ hat Peter Stamm zehn Geschichten ausgewählt, die zusammen eine Stimmung hervorrufen, die sich nur unzureichend mit gängigen Adjektiven wie melancholisch, nachdenklich oder desillusioniert beschreiben lässt. Denn die Erzählungen Peter Stamms lösen während und nach der Lektüre tiefere und zum Teil auch widersprüchliche Gefühle aus, die den Leser in eine neue Erfahrungswelt tauchen und ihm auf diese Weise die Möglichkeit des Lernens geben.

Fast zwangsläufig stellt sich so auf einer zweiten Ebene die Frage nach der Aufgabe der Literatur in einem kulturellen Umfeld. Ist Literatur dazu geeignet, den Menschen klüger und weiser zu machen? Ihn durch die erzählten Geschichten nicht nur mit einem ihm zuvor unbekannten Lebensumfeld bekannt zu machen, sondern ihn darüber hinaus allein mittels des Textes zu einem weiseren und besseren Menschen zu machen?

Das ist ein hochgestecktes Ziel, aber die Erzählungen des 1963 geborenen Schweizers Peter Stamm gehören zum Besten, was derzeit in deutscher Sprache geschrieben wird. Nicht umsonst stand Peter Stamms aktuelles Buch auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises 2011, der am 18.03.11 in Leipzig verliehen wurde. Gewonnen hat ein anderer, der junge Österreicher Clemens J. Setz mit seinem Erzählband „Die Liebe in den Zeiten des Mahlstädter Kindes“, aber verdient hätte den Preis Peter Stamm. Seine Erzählungen sind frei von allen Schockeffekten, zeigen in einer klaren, reduzierten Sprache das Fremde im Vertrauten, das Außergewöhnliche im Alltäglichen.

Die Geschichten handeln scheinbar unspektakulären Begebenheiten, von einem verlassenen Hotel, von einem Mann mit einem Koffer, der verschwindet, einer scheiternden Klavierlehrerin, einem pensionierten Pförtner, einem jungen Paar, das frisch zusammenlebt, oder von einem Pfarrer, der von seiner Gemeinde gemobbt wird.

Stamm ist ein unaufgeregter Autor, der, wie er selbst während unseres Gesprächs auf der Leipziger Buchmesse sagt, seine Figuren lieben muss, um über sie schreiben zu können: „Die Idee zu einer Geschichte kann eine wahre Begebenheit sein (wie in der Erzählung vom Waldmädchen Anja) oder ein zufälliger Impuls, den ich bekomme.“ Diese Anstöße brauchen mitunter lange, bis sie sich formen und zu einer Geschichte werden. Im Fall des Waldmädchens waren es elf Jahre.

Die Zusammenstellung der Geschichten dieses Erzählbandes hat Peter Stamm selbst vorgenommen. Der Titel „Seerücken“ verweist auf eine Landschaft in der Schweiz, dem Thurgau, in dem der Autor aufgewachsen ist. Geht es also zurück in die eigene Kindheit und enthalten die Geschichten viel Autobiographisches? – Nein. Es sind Geschichten aus unserer Gegenwart, einer Welt der offenen Systeme, der unendlichen Möglichkeiten menschlichen Scheiterns.

Stamm ist ein Meister des Weglassens und der Reduktion. Kaum finden wir Adjektive, die einen Gegenstand näher umschreiben, allein der Kontext und die wenigen Anhaltspunkte des Textes genügen dem Autor, uns in der Geschichte weiter zu führen und zu zeigen, was seinen Figuren widerfährt.

Heutzutage wird vieles produziert, was nur den kurzfristigen Verkaufserfolg beabsichtigt und einer cleveren Marketingstrategie samt Cross-Media-Selling zu verdanken ist. Oft ist es das schöne Papier, auf dem es gedruckt ist, nicht wert. Viele hummeldumme Glücks-Ratgeber und Schauergeschichten belasten das ästhetische Empfinden des Rezensenten. Wenn man auf die aktuellen Bestsellerlisten schaut, kann einem ganz schwindelig werden. Wie wohltuend ist es da, das neue Buch eines deutschsprachigen Gegenwartsautoren in den Händen zu halten, der solch eine literarische Qualität erzielt wie der Schweizer Peter Stamm!

Stamms Geschichten haben neben all dem Ohren und Sinne betäubenden, medialen Hintergrundrauschen ihre große Daseinsberechtigung als therapeutischer Spiegel unserer disparaten Lebensumstände, die uns aufgrund ihrer gewaltsamen Zersplitterung durch äußere Einflüsse immer wieder zu Richtungsänderungen und verzweifelten Entscheidungen zwingen.

„Seerücken“ ist ein wichtiges Buch. Ein 180-Seiten-Band mit zehn schlichten, aber bewegenden Erzählungen von Peter Stamm, der den Leipziger Buchpreis im Gegensatz zu Anderen wirklich verdient hätte.

Autor: Peter Stamm
Titel: „Seerücken – Erzählungen“
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: Fischer (S.), Frankfurt
ISBN-10: 3100751337
ISBN-13: 978-3100751331

Unser Gespräch mit Peter Stamm über „Seerücken“ auf der Leipziger Buchmesse 2011

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