Tom Rachman: Interview auf der Frankfurter Buchmesse am 08.10.10
KULTURBUCHTIPPS: Tom, zunächst vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns über Ihren Roman „Die Unperfekten“ zu sprechen. Ihr Terminkalender ist sicherlich gut gefüllt?
TOM RACHMAN: In der Tat. Während ich hier in Frankfurt bin, habe ich insgesamt 27 Termine, die ich wahrnehmen muss. Aber es macht mir natürlich auch Spaß, über mein Buch zu reden.
KULTURBUCHTIPPS: Lassen Sie uns also über Ihr Buch sprechen. Beginnen wir mit dem Titel. In Deutsch ist die Übersetzung meiner Meinung nach nicht ganz geglückt; denn „Die Unperfekten“ meint etwas anderes als „The imperfectionists“. „Imperfection“ bedeutet ja nicht nur Unvollkommenheit, sondern unter anderem auch „Fehlstelle“ bzw. „Störstelle“ im technischen Bereich. – Sind also „Die Unperfekten“, die Menschen, die in der Zeitungsredaktion arbeiten, vielleicht auch die menschlichen Fehlerquellen, die die perfekt durchorganisierte Maschine aus dem Takt bringen? Wie würden Sie dem Leser den Titel Ihres Romans erklären?
TOM RACHMAN: Der Romantitel „Die Unperfekten“ meint mehrere verschiedene Sachen. Erstens soll es andeuten, dass wir es in dieser Geschichte mit einem ganzen Ensemble von Charakteren zu tun haben. Zweitens handelt es sich um Persönlichkeiten, die stark herausgefordert werden und die sich sehr bemühen, ihr Leben dennoch gut zu führen. Das ist das eigentliche Herz dieses Romans. Ich war sehr fasziniert von der Idee des Perfektionismus. Es begann alles, als ich einmal auf einer Dinner Party war und italienisch sprechen musste. Damals sagte jemand zu mir, dass ich so gut italienisch spräche, dass es schon fast zu korrekt wäre, als ob ich aus einem Textbuch abläse. Ich sei wohl ein Perfektionist? – Darüber dachte ich lange nach, denn ich hielt mich eigentlich nie für einen Perfektionisten; alles, was ich an mir immer bemerkte, waren die Fehler, die ich machte, die unperfekten Formulierungen und so weiter. Der Grund für meine grammatikalisch-perfekte Aussprache war vielleicht meine Angst davor, unperfekt zu sein, was ich dadurch überkompensierte. Diese Idee pflanzte ich dann in mehrere meiner Charaktere ein, an denen ich seinerzeit arbeitete. Und ich fand es faszinierend und paradox, dass der Perfektionist oft zu gar keinem Ergebnis kommt; denn er liefert nichts Unperfektes ab, sondern bringt nur seine Umgebung in Schwierigkeiten und verärgert sie. Die Perfektion bleibt immer das Unerreichbare, und allein das Unperfekte ist das eigentlich Menschliche und das, was im wahren Leben herauskommt, wenn Menschen miteinander arbeiten. Ich dachte mir, dass dieses Kräftespiel zwischen dem ständigen Versuchen und Scheitern der Figuren eine interessante Grundlage für den Aufbau des Romans wäre.
KULTURBUCHTIPPS: Dies führt mich zu einem anderen Interpretationsansatz. Wie bereits gesagt, versteht man unter „imperfection“ in ihrer technischen Bedeutung die Ursache für eine Funktionsstörung innerhalb einer Maschine oder eines Systems. – Kann man den Titel Ihres Romans nicht auch so verstehen, dass der menschliche Faktor der Mitarbeiter einer Redaktion zu einer Funktionsstörung im technisch perfektionierten Ablauf der Produktion einer Tageszeitung führen kann? Ist also der Mensch ein Störfaktor geworden?
TOM RACHMAN: Auch das kann sein. Was mir am Titel „The Imperfectionists“ so gefällt, ist, dass es sich ja um ein erfundenes Wort handelt, das es so im Englischen nicht gibt, und so bringt es die Leute zu den unterschiedlichsten Interpretationen. Ich erinnere mich an ein anderes Interview mit einem australischen Journalisten, der meinte, dass der Titel sehr gut den bekannten Widerspruch beschreibe, dass eine Zeitung zwar auf den ersten Blick perfekt aussehe, bei näherer Betrachtung jedoch alles andere als perfekt sei. Zeitungen stecken voller Fehler, die durch Menschen verursacht werden. Eine Zeitung ist also an sich ein unperfektes Projekt, das jedoch die oberflächliche Anmutung eines perfekten Produkts besitzt. Ich mag diese Interpretation des Titels.
KULTURBUCHTIPPS: Sie haben ja selbst eine Menge Erfahrungen mit dem Zeitungsmachen.
TOM RACHMAN: Oh ja, ich habe insgesamt ungefähr ein Jahrzehnt in dieser Branche gearbeitet. Ich habe an der Columbia University for Journalism studiert und war mehrere Jahre Auslandskorrespondent bei Associated Press – zunächst in New York und später in verschiedenen Ländern in Übersee. Seinerzeit lebte ich in Rom. Stück für Stück zog ich mich von dieser Arbeit zurück, weil ich Romane schreiben wollte. Dafür bin ich dann nach Paris umgezogen. Ich habe dann geschrieben, und das Geld ging mir wieder aus. So begann ich, für die International Herald Tribune zu arbeiten, die in Paris ihre Hauptniederlassung hatte. Auf diese Weise konnte ich sechs Monate dort als Redakteur arbeiten und hatte dann sechs Monate Zeit fürs Schreiben. So habe ich dann „Die Unperfekten“ geschrieben.
KULTURBUCHTIPPS: Und heute? Arbeiten Sie immer noch für die Herald Tribune?
TOM RACHMAN: Nein, ich habe die Tribune verlassen, nachdem ich das Manuskript für das Buch 2008 in Frankfurt auf der Buchmesse verkaufen konnte. Ich war nicht hier, aber mein Agent hatte das Manuskript verkauft. Zu diesem Zeitpunkt waren gerade wieder meine sechs Monate außerhalb der Redaktion vorüber, und ich sagte, dass ich nicht zurück kommen würde. Ich war jetzt in der glücklichen Lage, von dem Vorschuss für mein Buch gut leben und weiter schreiben zu können, und das ist natürlich ein Traum.
KULTURBUCHTIPPS: Das war auch meine ursprüngliche Frage: Was liegt Ihnen mehr – die Arbeit in der Nachrichtenredaktion oder das Schreiben von Romanen?
TOM RACHMAN: Im weitesten Sinne wollte ich schon immer ein Schriftsteller sein. Dabei geht es gar nicht darum, entweder nur Belletristik oder nur Sachbücher zu schreiben; aber meine Themen für Non-Fiction hatten nie etwas mit dem täglichen Nachrichten-Journalismus zu tun. Zum Nachrichten-Journalismus kam ich eigentlich nur, weil ich es für einen guten Weg hielt, etwas von der Welt zu sehen. Aber vom schriftstellerischen Aspekt her fand ich diese Arbeit niemals befriedigend; man produziert nur sehr oberflächliche Texte, die unter Zeitdruck geschrieben sind und nicht in die Tiefe der Dinge schauen lassen. Außerdem geht es auch nur sehr selten bei den Inhalten um Kultur oder die Künste, die mich sehr interessieren. Deshalb war ich auch sehr froh, dass ich diese Welt hinter mich lassen konnte, wenngleich ich auch heute noch manchmal Essays und Artikel schreibe. Doch die meiste Zeit konzentriere ich mich jetzt darauf, Fiction zu schreiben und mein nächstes Buch fertig zu stellen. All das kostet sehr viel Zeit. In der Tat ist es verrückt, wie viel Zeit ich dafür brauche und wie anstrengend es ist. Es ist eine sehr einsame Arbeit. Ich sitze dabei in meinem Arbeitszimmer in London, sitze vor dem Computer und versuche, Wörter und Sätze aus meinem Kopf und auf die Seiten zu zwingen.
KULTURBUCHTIPPS: Wie lange haben Sie denn für „Die Unperfekten“ gebraucht?
TOM RACHMAN: Etwa zwei Jahre. Das ist aber schwer zu agen. Zunächst schreibt man den Text. Dann vergeht einige Zeit, und der Agent kann den Text verkaufen. Acht Monate später hat der Verlag dann eine Liste mit Kommentaren für Dich. Danach kommt dann eine Phase der Überarbeitung und schließlich ist der Text fertig. Also kann man nicht von einem konzentrierten und permanenten Arbeiten sprechen, aber insgesamt hat es etwa zwei Jahre gedauert.
KULTURBUCHTIPPS: Das ist ganz schön lang.
TOM RACHMAN: Ja, ziemlich lang, aber jetzt rückblickend scheint es gar nicht so lange gedauert zu haben. Aber es ist schon eine ziemlich anstrengende und aufwändige Arbeit, solch ein Buch zu schreiben. Wenn man es liest, fällt es einem gar nicht so auf, denke ich. Aber das ist ja auch Teil der Arbeit, es nicht so schwer und kompliziert aussehen zu lassen, wie man es beim Schreiben selbst empfunden hat. Schließlich soll die Lektüre keine Arbeit, sondern Freude machen. Aber wenn man so schreibt wie ich, dann braucht es lange Zeit und viele Korrekturen, bis man zum Ziel kommt. Wenn ich also den nächsten Roman in zwei Jahren fertig haben sollte, wäre ich sehr glücklich.
KULTURBUCHTIPPS: Ich habe die Lektüre sehr genossen. Ihr Buch hat ja zwei Erzählebenen – einerseits ist es die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang dieser Tageszeitung über die Jahrzehnte; andererseits handelt es sich bei Ihrem Roman doch eigentlich um eine hübsche kleine Sammlung von Kurzgeschichten, deren Protagonisten oft miteinander verbunden sind, deren Geschichten man aber auch losgelöst vom Rest des Buches als eigenständige Geschichten lesen kann. Diese Konstruktion macht es dem Leser sehr leicht, die Lektüre fort zu setzen und sich an den verschiedenen Schauplätzen und Schicksalen zu erfreuen, die sich bis zum Ende des Buches wie ein Mosaik zusammen setzen und zu einem Gesamtbild verdichten. Die meisten Charaktere sind am Kämpfen; sie kämpfen um ihren job bei der Zeitung und um die täglichen Nachrichten, aber sie sind auch im Privatleben vielen Konflikten ausgesetzt und haben es nicht leicht. – Jedoch hinter den ganzen Geschichten steht noch eine weitere Handlungsebene – der Aufstieg und Fall dieser einen Tageszeitung, ja vielleicht sogar die exemplarische Beschreibung des Aufstiegs und Niedergangs des Zeitungswesens in unserer heutigen Medienwelt. Heutzutage sterben mehr und mehr Tageszeitungen, nicht zuletzt wegen des Internets, der Attraktivität und Aktualität der elektronischen Medien. Wie sehen Sie selbst diese Entwicklung?
TOM RACHMAN: Sie haben natürlich absolut recht. Die Traditionen und die Geschichte des Journalismus verschwinden unglaublich schnell, denn ein Hauptelement dieses Systems war die Finanzierung des Journalismus durch Anzeigen und durch den Kaufpreis der Zeitung selbst. Es ist ja sehr teuer, eine Tageszeitung zu produzieren. Das wird schnell klar, wenn man bedenkt, was allein eine Reise des Reporters in ein fernes Land kostet, um die richtigen Nachrichten zu bekommen, sind oft viele solche Reise notwendig. Dann braucht man eine Redaktion, feste Mitarbeiter, Büroräume, Computer – ganz zu schweigen vom Druck, der Distribution usw. Jedermann weiß, dass dies eine Menge Geld kostet. Auf der anderen Seite sinken jedoch die Leserzahlen kontinuierlich. Das Internet hat eine große Leserschaft von den Tageszeitungen abgezogen. Zu allem Übel gibt es im Internet alle Informationen kostenlos. Auf diese Weise wurden die Grundlagen der Finanzierung der Zeitungsindustrie ausgehöhlt. Die traditionelle Produktion einer Zeitung kann also in Zukunft nicht mehr auf dieselbe Weise erfolgen wie früher. Es wird etwas Neues geben müssen. Eine Hoffnung besteht zum Beispiel darin, dass es in Zukunft auch möglich sein wird, dass für Nachrichteninhalte auch im Internet bezahlt werden wird. So könnte auch Online-Journalismus profitabel sein. Die Frage bleibt jedoch, ob man unter diesen neuen Umständen überhaupt in der Lage sein wird, vernünftige professionelle Inhalte zu produzieren. Also lassen Sie es mich so formulieren: Die Lage ist ernst, aber was hoffnungsvoll stimmt, ist die Tatsache, dass Menschen immer neugierig und an Wissen von verschiedenen Orten der Welt interessiert sein werden. Die Menschen haben sich nicht verändert und werden auch in Zukunft an Nachrichten interessiert sein. Aber die Technologie hat sich verändert, und wir sind aktuell damit beschäftigt, neue Wege und professionelle Lösungen für die Zukunft zu finden.
KULTURBUCHTIPPS: Das stimmt schon – die Menschen sind immer noch neugierig, und die Technologie hat sich gewandelt. Aber auch der Zeitungsmarkt selbst hat sich gewandelt. Überall gibt es kostenlose Tageszeitungen, die den Leser mit scheinbar umfassenden Informationen versorgen, das Internet ist kostenlos… Ich bin mir nicht sicher, ob die Leser wirklich bereit sein werden, für Inhalte zu bezahlen.
TOM RACHMAN: Stimmt, im Moment tun sie das noch nicht. Aber ich bin da optimistisch. Es ist eine Frage, wie man das in der Öffentlichkeit kommuniziert. Zurzeit denken die Leute, dass alles, was im Internet steht, ihnen gehört. Da ist es natürlich schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Jedoch gibt es auch andere beispiele, wo dies bereits funktioniert: Nehmen Sie iTunes als positives Beispiel. In den späten 1990er Jahren wurde Musik massenhaft illegal kopiert und weitergegeben; heute gibt es iTunes, und niemand hat ein Problem damit, für Musikstücke Geld zu bezahlen. Apple versucht nun mit dem iPad dasselbe mit anderen Inhalten. Wir werden sehen, ob das funktioniert. Andererseits können wir also sehen, dass das iTunes-Prinzip zwar funktioniert hat, aber es hat einen Teil der Musikindustrie zerstört. Nur wenige Musiker können wirklich davon leben, nur ihre Musik zu verkaufen. Es stimmt, dass diese Industrie nie mehr so sein wird wie zuvor. Aber ich bin hoffnungsvoll, dass wir für die Zeitungsindustrie eine ähnliche Lösung finden werden, die die Branche im Gleichgewicht hält.
KULTURBUCHTIPPS: Das mag vielleicht für die großen und überregionalen Tageszeitungen stimmen, aber wie sieht es mit dem Überleben der kleinen, lokalen Tageszeitungen aus? Sind nicht gerade die kleinen bedroht, weil sie mit den technologischen Fähigkeiten der großen Tageszeitungen mithalten können? Außerdem stellt sich noch die frage nach der Qualität der Inhalte. Wir wissen alle, dass Inhalt nicht gleich Inhalt ist. Es gibt die gut recherchierten, teuren Nachrichtenbeiträge, und es gibt gleichzeitig die Nachrichten als Massenware, als preisgünstiges Füllmaterial für kostenlose Zeitungen, die mehr Anzeigenträger als Nachrichtenblätter sind. Wird die Schwierigkeit nicht darin liegen, dass die Leser den Unterschied zwischen der gut recherchierten, wertvollen Nachricht und dem oberflächlich recherchierten Nachrichtenbrei der großen Agenturen nicht auf Anhieb erkennen?
TOM RACHMAN: Ich denke, sie sprechen da einen sehr wichtige Punkt an. Ich bin der Meinung, dass die Leser weiterhin neugierig bleiben und auch Nachrichten aus Ihrem lokalen und regionalen Umfeld lesen möchten. Die Frage ist nur, von welcher Qualität die Nachrichten sind, die in Zukunft den Bildschirm oder das Zeitungsblatt füllen werden. Es reicht also in der Tat nicht aus festzustellen, dass die Leute noch Tageszeitungen lesen und dass damit doch alles in Ordnung sei. Wenn die Meldungen in der Tageszeitung nur noch darüber berichten, welche Unterwäsche Britney Spears gerade trägt, dann bringt uns das auch nicht wirklich weiter. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es gibt sicherlich eine Menge Leute, die gern mehr über Britney Spears’ Unterwäsche erfahren möchten, und das ist auch in Ordnung, solange es auch die anderen Nachrichten gibt. Vielleicht wird sich sogar die Mehrheit der Leser nur für Britney Spears interessieren. Aber eine starke Minderheit von vielleicht 10 bis 20 Prozent wird auch Wert legen auf professionellen Journalismus und fundiert recherchierte Artikel. Diese Minderheit ist intelligent und wird auch bereit sein, für diese professionellen Inhalte zu zahlen. Es werden also Leute wie Sie und ich sein, die lieber für Qualität zahlen als kostenlose Nachrichten zu erhalten, die nichts taugen.
KULTURBUCHTIPPS: Jetzt haben wir lange über Zeitungen und die Branche gesprochen. Kommen wir kurz zurück zu der italienischen Tageszeitung in Ihrem Roman. Vielleicht habe ich zu schnell oder zu unkonzentriert gelesen, aber ich habe nirgends den Namen dieser Zeitung gefunden.
TOM RACHMAN: Der Name der Zeitung taucht auch nirgends auf.
KULTURBUCHTIPPS: Sie selbst arbeiten für die International Herald Tribune. Wenn ich richtig recherchiert habe, arbeitet Ihr Bruder Gideon Rachman als „chief foreign affairs commentator“ bei der Financial Times. War Ihr älterer Bruder vielleicht ein berufliches Vorbild, oder wie kamen Sie dazu, Journalist zu werden?
TOM RACHMAN: Das klingt zunächst nahe liegend. Allerdings ist Gideon mein Halbbruder, und er wuchs in England auf, während mein Vater mit seiner neuen Frau kurz nach meiner Geburt nach Vancouver in Kanada zog. Wir wuchsen also nicht zusammen auf; ich kannte ihn nur so aus der Ferne, und wir waren getrennt durch den Atlantik. Außerdem ist er dreizehn Jahre älter als ich. Gideon war wirklich für die Journalisten-Laufbahn vorbestimmt. Schon als Junge hatte er immer Tageszeitungen gelesen. Für mich selbst war as nie wirklich interessant. Ich habe diese Laufbahn nur eingeschlagen, weil ich Schriftsteller werden wollte. Heute schreibe ich keine journalistischen Artikel mehr, und Gideon ist jetzt der Chef-Kommentator für auswärtige Angelegenheiten bei der Financial Times. Das sagt eigentlich alles.
KULTURBUCHTIPPS: Wieso gingen Ihre Eltern eigentlich kurz nach Ihrer Geburt nach Kanada?
TOM RACHMAN: Mein Vater war Professor für Psychologe. In Vancouver konnte er eine bessere Stelle bekommen als in England; deswegen zogen wir um. Das ist alles.
KULTURBUCHTIPPS: Sie sagten bereits, dass Sie aktuell an Ihrem nächsten Buch arbeiten. Möchten Sie uns schon etwas darüber verraten?
TOM RACHMAN: Ich kann Ihnen nichts erzählen, denn das ist ein Geheimnis. Aber soviel kann ich verraten: Es ist kein Roman über Journalisten. Ich hoffe, dass es ein gutes Buch wird. Ich habe jetzt einen ersten Entwurf fertig. Sie können sich also vorstellen, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe. Ich finde die Geschichte aber sehr interessant, und ich habe das Gefühl, dass ich gut vorankomme und dass das Schreiben an Tempo zunimmt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Ich weiß, dass ich einen langen Weg vor mir habe, aber ich weiß auch, wohin ich gehe. An diesem Punkt bin ich jetzt, und ich bin sehr hoffnungsvoll, dass es eine gute Geschichte wird.
KULTURBUCHTIPPS: Können Sie uns etwas von Ihrem Schreibprozess verraten? Wie schreiben Sie einen Roman?
TOM RACHMAN: Ganz entscheidend ist für mich Disziplin. Ich versuche beim Schreiben sehr diszipliniert zu sein. Ich versuche jeden Tag zur selben Zeit zu schreiben und jeden Tag wenigstens etwas zu schreiben. Das Schwierige ist, dass man für das Schreiben selbst verantwortlich ist. Da ist kein Boss, der einen anschreit, wenn man nichts tut. Das ist zwar einerseits sehr schön; andererseits setzt es Dich selbst ganz schön unter Druck. Wenn Du eine Woche gar nichts produziert hast, kannst Du eben nicht sagen, okay, das war eine beschissene Woche und mein Boss ist ein Idiot. Es ist dann Dein eigenes Versagen und Du bist allein verantwortlich dafür. Das lastet ganz schön schwer auf einem, wenn Du immer produktiv sein willst. Was ich also mache ist Folgendes: Wenn ich eine Idee für eine Geschichte habe, die ich erzählen möchte, dann versuche ich zunächst es zu präzisieren. Schon sehr früh versuche ich einen ersten Entwurf zu schreiben. Ich habe festgestellt, dass ich die Geschichte und die einzelnen Charaktere am besten verstehe, wenn ich solche eine erste Kurzfassung schreibe. Dieser erste Entwurf ist natürlich meilenweit von dem entfernt, was dann am Ende als Buch erscheint. Man kann das in etwa vergleichen mit einer kleinen Skizze, wenn man ein Fresko für eine ganze Wand plant. Du skizzierst das Ganze nur sehr grob, so dass man sehen kann, wo alles hingehört. Wenn Du dann einmal die Umrisslinien gezeichnet hast, kannst Du damit anfangen, die Farben zu mischen und die einzelnen Figuren auszumalen. Danach redigiere und korrigiere ich den Text endlose Male. Am Ende liegt die Kunst nicht nur im Schreiben, sondern im Redigieren. Ich habe also am Anfang eine grundsätzliche Idee, wie das Buch sein soll, und dann folgt ein langer Prozess des Schreibens und Redigierens, um am Ende auch dahin zu kommen. Man schreibt also jeden Tag seine sechs, sieben, acht Versionen der Textstelle, an der man gerade arbeitet, und denkt, man hat den richtigen Ton gefunden. Und wenn man es liest, merkt man, nein, so geht es nicht. Das Ganze hat sehr viel Ähnlichkeit mit einem Ausdauerlauf. Wenn Sie durch die Wüste laufen wollen und bereits die Hälfte hinter sich haben, dann ist es schlauer weiter zu laufen als wieder umzudrehen.
KULTURBUCHTIPPS: Sie sagen, dass Sie relativ früh einen ersten Entwurf der Geschichte schreiben. Arbeiten Sie auch mit der Aufteilung der Story in einzelne Kapitel, deren Inhalte festgelegt sind?
TOM RACHMAN: Bei diesem Buch war das so. Wie Sie wissen, erzählt jedes Kapitel des Romans eine eigene Geschichte. Wenn es sich jedoch um eine sich entwickelnde, lange Geschichte handelte, hätte ich das vielleicht so gemacht. Aber ich denke, dass diese Kapitel wahrscheinlich während des Schreibens noch oft verschoben und vertauscht würden, bis man die richtige Reihenfolge gefunden hat. Schreiben ist wirklich eine fortlaufende Arbeit, während der sich vieles verändert. Man stellt fest, dass manche Elemente aus dem einen Kapitel viel besser in ein anderes passen würden, und so weiter.
KULTURBUCHTIPPS: Wie war denn die Arbeit an und mit den Charakteren. Haben sich die Charaktere während des Schreibens verändert und entwickelt?
TOM RACHMAN: Oh ja. Manche Figuren waren von Anfang an fertig ausgeformt, aber in den meisten Fällen haben sich die Charaktere kontinuierlich entwickelt. Sie verändern sich, während Du sie schreibst, und sie verändern sich auch, wenn Du zwischen den Schreib-Sessions über sie nachdenkst. Selbst wenn Du sie in eine neue Situation bringst, werden sie sich verändern und eigene Seiten entwickeln. Das ist eine wirklich faszinierende Erfahrung gewesen. Es gibt da eine symbiotische Verbindung zwischen der Entwicklung der Charaktere und der Entwicklung der Geschichte. Du hast also eine Idee von einer Figur und Du setzt sie einer bestimmten Situation aus und wartest ab. Die Handlung wird die Figur entwickeln. Und andererseits wird die Figur auch die Handlung beeinflussen. Es ist wie ein Tropfen, der in den anderen eintaucht, wie bei einem chemischen Prozess.
KULTURBUCHTIPPS: Sind den die Figuren aus „Die Unperfekten“ immer noch lebendig? Leben Sie immer noch mit ihnen zusammen? Oder ist für Sie die ganze Story abgeschlossen.
TOM RACHMAN: Ein bisschen ist beides richtig. Die Geschichte von „Die Unperfekten“ hat ja einen ziemlich deutlichen Schluss, und ich hatte auch nicht vor, daraus eine Roman-Serie zu machen. Für mich war das Ganze also ziemlich abgeschlossen. Auf der anderen Seite aber spricht man, nachdem man ein Buch geschrieben hat, mit einer Menge von Leuten über das Buch, man veranstaltet Lesungen und so weiter. All dies lässt die Charaktere natürlich auch wieder lebendig werden. In meiner Erinnerung sind die Figuren also noch sehr gegenwärtig, in etwa so, als wenn man an einen nahen Freund oder Verwandten denkt, der gerade nicht am selben Ort ist.
KULTURBUCHTIPPS: Letzte Frage: Was sind Ihre Lieblings-Schriftsteller? Gibt es Vorbilder für Ihr Schreiben?
TOM RACHMAN: Da gibt es eine Menge! Lassen Sie mich in der Vergangenheit anfangen und dann langsam zur Gegenwart kommen: viele klassische russische und französische Autoren, Tolstoi, Chekhov, Flaubert, Maupassant. Im 20. Jahrhundert liebe ich einiges von Joyce, Virginia Woolf, George Orwell und natürlich Graham Greene. Von den moderneren Autoren mag ich Isaac B. Singer sehr, aber auch Bruce Chatwin, den ich für einen sehr guten Schriftsteller halte. Dann noch William Boyd, den ich sehr gern gern lese. – Ja, ich denke, das sind erst einmal genug, oder?!
KULTURBUCHTIPPS: Allerdings. Vielen Dank für das interessante Gespräch!
TOM RACHMAN: Es war mir ein Vergnügen.