Margaret Atwood: „Das Jahr der Flut“

Fans der Romane von Margaret Atwood werden „Das Jahr der Flut“ lieben. In ihrem neuen Roman setzt die kanadische Erfolgsautorin Margaret Atwood das post-katastrophische Szenario der Geschichte von „Oryx und Crake“ fort. Aber Margaret Atwood meint, man könne diesen Roman auch sehr gut lesen und verstehen, ohne „Oryx und Crake“ gelesen zu haben. Ort und Zeit sind dieselben, aber die Geschichte wird von einer anderen Sicht aus erzählt.

Die Welt ist nach der Katastrophe in einen Dämmerzustand verfallen. Die Menschheit ist fast völlig ausgerottet, und nur wenige haben überlebt. Wir lernen Toby kennen, die auf dem Dach einer Ruine die Katastrophe überlebt hat. Gegenüber im Tal leben die „Gottes-Gärtner“, eine radikal-fundamentalistische Gruppe, die ihren Zusammenhalt und die Moral durch das Bestellen ihrer Gärten und das Singen von Psalmen aufrecht halten.

Nach der Katastrophe hat sich die Welt noch mehr geteilt in diejenigen, die herrschen und verwalten, die „Komplexler“, und in die Ausgebeuteten und Versklavten – die „Plebsler“, die im Ghetto Sinkhole überleben müssen und zu Lebensmitteln verarbeitet werden, wenn sie sterben. Ist dies eine kleine Hommage der Autorin an das B-Movie „Soilent Green“ aus den 1960er Jahren?

Margaret Atwood hat diese Geschichte in nicht allzu ferner Zukunft angesiedelt, in der Gen-Manipulationen und Mutationen an der Tagesordnung sind. Die Autorin führt den Leser in eine graue und erschreckende Welt. Der Stoff ist mehr Fantasy als Fiction, mehr Zukunft als Gegenwart und vermittelt mehr Langeweile als Spannung.

„Das Jahr der Flut“ spinnt langsam einen Kokon um den Leser, bindet ihn ein in die Sprache und die Realität dieser nicht all zu fernen Zukunft. Und spätestens hier beginnt die Lektüre schnell zu nerven. Die Gesänge und Psalmen der gläubigen „Gottesgärtner“ durchziehen das Buch. Die Mafia schickt Gefrierfleisch, „WyzeBurger“ sind nur zu zwanzig Prozent aus Fischstäbchen gemacht usw.

Wenn man schon eine solche Geschichte erzählt, dann wäre es schön, wenn wenigstens die Sprache verzauberte und die Erzählkunst der Autorin den Leser gefangen hielte, doch:

„Ach du meine Güte“, sagte der Arzt beim Anblick meiner blauen Haut. „Sind das etwa blaue Flecken, Kleines?“ „Nein“, sagte ich. „Das ist Farbe.“ „Ach so“, sagte er. „Ihr müsst euch einfärben?“ „Die ist in den Kleidern“, sagte ich. „Verstehe“, sagte er.

He said. I said. He said. I said. – Was für eine langweilige Übersetzung. Statt immer nur „sagen“ zu sagen, könnte man auch „aussagen, bedeuten, behaupten, bekennen, dazwischenrufen, dazwischen werfen, einwenden, einwerfen, entgegnen, entkräften, finden, meinen, mitteilen, offenbaren, verkörpern, vorbringen, vorstellen, widerlegen, widersprechen, zugeben, zählen, äußern, aufrufen, aufzählen, ausplaudern, ausposaunen, ausrichten, äußern, aussprechen, behaupten, bemerken, benachrichtigen, beschreiben, bestehen, bestellen, dartun, einfließen, entbieten, entschlüpfen, erklären, eröffnen, erteilen, erzählen, feststellen, informieren, melden, mitteilen, plaudern, schildern, schnacken, schwatzen, sprechen, tratschen, übermitteln, weitererzählen, wiedererzählen, wissen, zubringen, zutragen, meinen, mitteilen, reden, sprechen“ schreiben… – Ein wenig mehr Flexibilität bei der Übersetzung hätte der Geschichte vielleicht zu etwas mehr Farbe verholfen.

Aber was hilft die schönste Übersetzung, wenn die Geschichte nur moralinsauer dahin plätschert? „Das Jahr der Flut“ liest sich wie ein Fantasy-Roman für die „Generation Grün“ und kann bestenfalls den Regionalgruppen von attac und Greenpeace als Diskussionsgrundlage für die nächsten Aktionen zur Rettung der Welt dienen. Gute  Unterhaltung bietet der Roman jedenfalls nicht.

Margaret Atwood schreibt selbst in ihrer Danksagung am Ende des Buches: „“Das Jahr der Flut“ ist Fiktion; doch die allgemeine Richtung und viele Details sind beunruhigend nahe an der Wirklichkeit.“ Die Religiosität der Gottesgärtner hat ihre Vorbilder in der christlichen Theologie und im nordamerikanischen Fundamentalismus.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Margaret Atwood zeigt deutlich die Gefahren einer zukünftigen Gesellschaft auf, deren menschenverachtende, technologische Entwicklung linear in die Zukunft skaliert wurde. Wir müssen diese Entwicklung stoppen, um nicht die Zukunft der ganzen Menschheit aufs Spiel zu setzen. Wir müssen diskutieren und die schweigende Mehrheit aktivieren. Dafür engagiert sich auch die Autorin vehement in der Öffentlichkeit. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Roman dafür das richtige Mittel ist.

Lässt man all die Anspielungen auf die Verhältnisse in jener zukünftigen Gesellschaft und die Beschreibungen von Produkten und Verhaltensweisen weg, dann bleibt die kleine und belanglose Geschichte der „jungen, kämpferischen Toby“, die auf die „Trapeztänzerin Ren“, die „anarchische Amanda“ und auf Jimmy trifft, die alle in dieser kalten Gesellschaft leben und überleben wollen. Diese Geschichte kann man lesen. Muss man aber nicht. Wer es trotzdem macht und obendrein noch begeistert ist, kann auf der internationalen Website (http://www.yearoftheflood.com) sogar noch die Vertonung der Gärtner-Lieder hören, Klingeltöne kaufen, den Regenwald retten,…

Autor: Margaret Atwood
Titel: „Das Jahr der Flut“
Gebundene Ausgabe: 478 Seiten
Verlag: Berlin Verlag
ISBN-10: 3827008840
ISBN-13: 978-3827008848

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