Das Schicksal der Figuren des neuen Romans von Andrej Kurkow ist seltsam miteinander verknüpft. Der Autor schafft es wieder einmal, einen absurden Mikrokosmos vor den Augen seiner Leser entstehen zu lassen, der ganz gut unserer Vorstellung entspricht, die wir von einer disparaten Gesellschaft im Osten Europas haben, die permanent den Verwerfungen eines seit knapp zwanzig Jahren wütenden Turbo-Kapitalismus ausgesetzt ist.
Die Geschichte spielt in der Ukraine, genauer gesagt im Kiewer Gebiet, mal in einem kleinen Dörfchen namens Lipowka, mal in Borispol und natürlich auch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew selbst.
Die junge Mutter Irina fährt jeden Morgen nach Kiew ins Institut, um sich gegen Bezahlung die frische Muttermilch abpumpen zu lassen. Ihr kleines Töchterchen Jasja wird ersatzweise mit Trockenmilchpulver gestillt. So wie Irina machen es viele Frauen, denn es ist eine vergleichsweise einfache und gut bezahlte Arbeit.
Was mit der Muttermilch geschieht, erfährt Irina erst nach und nach, und die Wahrheit schockiert sie nicht. Schließlich wird sie für ihre Milch bezahlt und kann die Wartezeit zwischen dem zweimal täglichen Abpumpen mit Spaziergängen durch die Kiewer Straßen verbringen.
Andrej Kurkow konstruiert in seinem neuen Roman ein kompliziertes Beziehungsgeflecht:
Die junge Mutter Irina und der Sicherheitsbeamte Jegor, der sich in sie verliebt und ihr ein anderes Leben ermöglichen will. – Darja, die Frau des ermordeten Apothekers Edik, die ihren Mann vom Plastinator bearbeiten und wieder nach Hause bringen lässt, damit der Abschied von dem Toten nicht so abrupt vonstatten geht. – Semjon, der tagsüber zur Body Guard des bekannten Abgeordneten Gennadi Iljitsch gehört, nachts jedoch zum Schlafwandler wird und seit Jahren in den Nächsten eine ihm unbekannte Frau trifft, mit der er offenbar ein Verhältnis hat. – Der unkonventionelle Psychiater Pjotr Issajewitsch, der Semjon von aller Verantwortung frei spricht, während er schlafwandelt. – Gennadi Iljitsch, der in der Politik Karriere macht und sich sein jugendliches Aussehen durch ganz besondere Milchbehandlungen erhält. – Pater Onufri, der als schlecht bezahlter, orthodoxer Geistlicher sehen muss, wo er bleibt, in der Privat-Kirche von Gennadi Iljitsch Gottesdienste abhält und per Zeitungsannoncen die Segnung von Haus und Auto anbietet. – Walja, die in einem Spielcasino arbeitet, und ihr Mann Dima, der auf dem Flughafen als Sicherheitsbeamter einen Koffer mit geheimnisvollen Ampullen verschwinden lässt, um sie zu Geld zu machen. – Murik, der Kater mit mindestens neun Leben, der zum mutigen Raubtier wird, wenn er den Inhalt dieser Ampullen schlürft.
Sie alle versuchen den Alltag in der ukrainischen Millionen-Metropole zu überleben und haben nicht nur ihre eigenen Geschichten, die berührungslos nebeneinander herlaufen, sondern sie sind auch noch auf vielfältige Weise miteinander verbunden und leben letztlich in einer Schicksalsgemeinschaft.
Als wäre dies nicht alles schon kompliziert und verworren genug, gibt es da noch die Vereinigung der „Botschaft des Mondes“, ein Club der parlamentarischen Nachtarbeiter und Schlafwandler, der sowohl an einer friedlichen Übernahme der Macht im Lande arbeitet, gleichzeitig jedoch auch an der Entwicklung von Substanzen, die mutig und gerechtigkeitsliebend machen sollen. Man will nicht nur an die Macht, sondern auch das Beste für die Menschen:
„Eine Gesellschaft von Psychopathen muss von Psychiatern geleitet werden.“ meint der Psychiater Pjotr Issajewitsch, der selbst eine wichtige Funktion in der Kirche der Botschaft des Mondes hat. Die Hälfte der Parlamentsabgeordneten ist bereits von der Idee einer geheimen Bewegung begeistert und trifft sich regelmäßig in Nachtklubs. Man wird die Wahlen gewinnen, und der Ukraine blüht eine glorreiche Zukunft – auch „ohne eine farbige Revolution“, so die Anspielung auf die Orangene Revolution der Reformbündnisses um Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko.
Wie schon in seinen früheren Romanen macht Andrej Kurkow auch in „Der Milchmann in der Nacht“ den alltäglichen Wahnsinn in der Gesellschaft zum Hauptthema seiner Geschichten. Nicht nur wegen der vielen russischen und ukrainischen Namen meint man, einen Roman von Tschechow aus dem 21. Jahrhundert vor sich zu haben. Der Gedanke an Tschechow ist gar nicht so abwegig, denn wie Andrej Kurkow in seinem Interview mit kulturbuchtipps erzählt, gibt es eine Familien-Legende, nach der seine Groß-Groß-Groß-Großmutter, eine Morosow, die Schwester von Tschechows Mutter gewesen sein soll…
Die oftmals skurrilen Charaktere und ihre Eigenarten malen das Spiegelbild einer Gesellschaft, die zwar durch die kapitalistischen Irrungen in eine starke Schieflage geraten ist, in der sich jedoch der Einzelne dank einer seit Jahrhunderten erprobten Schicksalsergebenheit und einer gehörigen Portion Erfindergeist mit der aktuellen Situation abfindet und das Beste daraus macht.
Es wird gesoffen ohne Ende. 50 oder 100 Gramm Wodka oder Cognac gibt’s schon am Morgen oder zwischendurch, zum Frühstück und zu Pelmeni, und in der Garage tröstet der Selbstgebrannte mit Brennnesseln über manche Schlappe hinweg und macht den Kopf klar für die Lösung anstehender Probleme.
Im Verlauf der Geschichte freundet sich der Leser mit den Figuren an und versteht dank der hervorragend gestalteten Charakterisierung der Protagonisten, was diese wirklich bewegt.
„Der Milchmann in der Nacht“ zeugt von der großen Erzählkunst des Autors und zählt zu dem Besten, was Andrej Kurkow in deutscher Sprache veröffentlicht hat.
Die Ukraine im 21. Jahrhundert: Wo nichts mehr sicher ist, wird alles möglich. Ein turbulenter Roman über die Liebe und das Leben, ein Plädoyer für den Optimismus und eine unterhaltsame Burleske über den Wahnsinn unserer Zeit und wie man mit ihm umgehen kann.
-> Unser Interview mit Andrej Kurkow in Berlin können Sie hier lesen.
Autor: Andrej Kurkow
Titel: „Der Milchmann in der Nacht“
Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257067275
ISBN-13: 978-3257067279